Oft kennen wir unsere Patienten besser als viele unserer Freunde. Das ist eine emotionale Zwickmühle – denn wie soll ich professionellen Abstand wahren, wenn ich menschliches Leid nah an mich ranlassen muss?
Nähe ist ein Thema, was im Medizinstudium eigentlich nie besprochen wird, obwohl es meiner Meinung nach dazugehören sollte. Wir lernen extrem viel theoretisches Wissen, hoffentlich auch ein bisschen über Kommunikation, aber zumindest während meiner Studienzeit gab es faktisch nichts darüber, was der Job des Arztes emotional mit uns macht. Doch außerhalb von Balint-Gruppen gibt es kaum eine Möglichkeit, den emotionalen Ballast des alltäglichen ärztlichen Daseins mal loszuwerden. Und Hand aufs Herz: Wer hat und nimmt sich diese Zeit wirklich regelmäßig?
Wir werden im medizinischen Bereich immer wieder mit den großen und kleinen Tragödien des menschlichen Lebens konfrontiert. Begleiten Patienten mit schweren Erkrankungen oft über Jahre hinweg und auch wenn wir als Hausärzte keine primären Psychotherapeuten sind, ergeben sich oft psychotherapeutische Momente – alleine durch den ständigen Kontakt. Und natürlich sind das selten die schönen Momente, sondern die, wo es ans Eingemachte geht: schwere Erkrankungen, Jobverlust, Lebenskrisen wie Scheidungen, Trauerfälle oder eben auch der nahende Tod (und danach die Trauer der Angehörigen).
Ich habe letztes Jahr einen Patienten bis zum Tod begleitet, den ich vorher fünf Jahre lang wirklich intensiv betreut hatte – von der Zufallsdiagnose eines Pleuramesothelioms (bei einem Mittvierziger!) über die Wut der Diagnose („Warum ICH?!“) und die Suche nach therapeutischen Optionen (Kommentar der ersten Klinik: „Der Patient sollte sich nicht zu sehr in seine Therapie einmischen“), die Chemozyklen und OPs, die Erholungsphase, das (leider quasi schon erwartete) Rezidiv, die palliative Checkpoint-Inhibitor-Therapie, bis hin zur wirklich palliativen Phase und seinem Tod, ziemlich genau fünf Jahre nach Erstdiagnose.
Ich glaube schon, dass dadurch eine gewisse (emotionale) Nähe entsteht. Man begleitet, ist manchmal auch emotionaler Sparringspartner, bespricht die privatesten Dinge. All das gehört irgendwie mit dazu. Andererseits hatte ich ja schon über die Schwierigkeiten geschrieben, mit dieser Menge an emotionaler Last umzugehen. Heute geht es mir aber um einen anderen Aspekt, nämlich welches Verhältnis man selbst zu Nähe bekommt.
Es gibt dieses Zitat im Superhelden-Animationsfilm Die Unglaublichen: „Wenn alle was Besonderes sind, ist es keiner.“ Das empfinde ich manchmal in Bezug auf Nähe bei meiner Arbeit: Wenn einem alle nah sind, ist es keiner. Und das gilt dann leider nicht nur für die Arbeit.
Über die Jahre hat man unheimlich viele Patienten, die einem doch auch nahegehen. Und über die ich oft mehr weiß als über viele lockere Bekannte und die ich emotional intensiver erlebt habe als manche Freunde. Es ist eben doch nicht einfach nur ein Job. Andererseits ist es aber so, dass ich beruflich immer der gebende Teil bin, aber auch den Ausgleich brauche – und nicht meine Familie und Freunde dauernd als Ladestation ge- bzw. missbrauchen kann. Und wie schafft man diese ausgleichende Nähe für sich selbst, wenn man gleichzeitig in der Sprechstunde jede Woche diese neutrale/empathische/aufbauende Nähe für die Patienten geben soll?
Ich glaube, dass das auch ein Teil ist, warum es vielen Ärzten so unheimlich schwerfällt, in die Patientenrolle (oder überhaupt aus der Arztrolle heraus) zu wechseln. Man ist einfach allein aufgrund der Zeit und Intensität, mit der man seine Tätigkeit ausübt, irgendwann einfach zu sehr verschmolzen mit diesem Verhalten, dass es schwer fällt, die Perspektive zu wechseln. Deswegen haben auch unheimlich viele Ärzte eine Art freundliches Pokerface.
Darauf hatte mich mein Mann schon vor Jahren mal hingewiesen und inzwischen merke ich, dass ich auch eins habe. Man ist freundlich und zugewandt, aber irgendwie gleichzeitig distanziert. Das heißt nicht, dass mir die Dinge nicht nahegehen und ich auch durchaus versuche, eine emotionale (Ver-)Bindung zu den Patienten als stabile Arzt-Patienten-Beziehung aufzubauen. Aber genau dieses Dauer-Verbinden fordert halt seinen Tribut. Ich weiß von Kollegen, die deswegen nach der Praxis erstmal eine halbe bis eine Stunde mit ihren Haustieren verbracht haben, bevor sie überhaupt in die Nähe von Menschen gehen wollten – aber das ist mit Kindern keine Option. Das ist aber wahrscheinlich nicht wirklich medizinspezifisch, sondern in allen Berufen zu finden, die viel Kontakt mit anderen Menschen haben.
Und ganz ehrlich: Ich brauche oft nach den vielen Patientenkontakten manchmal auch erstmal Ruhe. Was natürlich gerade mit drei Kindern nicht wirklich funktioniert – denn die wollen ihre Mama, wenn ich dann endlich zu Hause reinkomme. Am besten ist es, wenn ich im Sommer mit dem Pedelec zur Praxis fahre. Da habe ich dann eine halbe Stunde (und körperliche Betätigung) um erst einmal runterzukommen, bevor es zu Hause mit vollem Elan weitergeht. Aber oft geht das eben nicht, sei es aus Wettergründen oder zeitlich. Denn natürlich bin ich dann doppelt so lange unterwegs wie mit dem Auto. Aber emotional ist es oftmals einfacher. Zumindest für mich.
Denn: „Zur rechten Nähe gehört die feine Ferne.“ (Luise Rug)
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