Von meinen Patienten darf ich zu Hause eigentlich nicht erzählen. Doch wohin mit den Emotionen, die so ein Arbeitstag manchmal hinterlässt?
„Hallo Schatz, wie war es auf der Arbeit?“ Ein klassischer Begrüßungssatz in vielen Sitcoms und wahrscheinlich auch bei vielen Leuten zu Hause. Die Antworten variieren: Von einem kurzen „Gut, und bei dir?“ bis hin zu „Also die Frau Meier von der Verwaltung, die hat mich heute beim Verkaufsgespräch so genervt …“.
Bei medizinischem Personal ist das etwas komplizierter. Klar – eine Einteilung mit „gut/ging so/schlimm“ geht immer, aber der Teufel steckt ja bekanntermaßen im Detail. Denn Details darf ich aus Datenschutzgründen nicht verraten. Datenschutz ist eines der Themen, die in den letzten Jahren immer wichtiger geworden sind. Das ist einerseits sicherlich gut, weil viele Informationen andere Leute nichts angehen, aber andererseits auch durchaus kompliziert.
Spätestens seit dem vollständigen Inkrafttreten der DSGVO im Mai 2018 frage ich mich manchmal, wie die Politik sich das vorstellt. Das fängt an beim Aufrufen aus dem Wartezimmer. Eigentlich sollen wir keine Namen nennen. Aber wie soll ich die Patienten denn dann aufrufen? „Der Patient mit dem Furunkel am Hintern bitte in Zimmer 3?“ Das ist doch noch viel schlimmer.
Auch die Befundübermittlung ist definitiv nicht einfacher geworden. Jetzt wollen manche Praxen vor Übermittlung der Arztbriefe (vor allem älterer Briefe) erstmal eine Schweigepflichtsentbindung. Das mag zwar formal korrekt sein, macht aber den Praxisalltag noch viel komplizierter.
Die Patienten wiederum sehen das durchaus locker. Da wird auch schon mal im Flur bei der Übergabe des Rezepts vom Ausschlag unter der Brust berichtet oder über veränderte Stuhlgewohnheiten. Und das, obwohl ja andere Patienten daneben sitzen. Ich glaube nicht, dass es den Patienten immer bewusst ist, aber es scheint interessanterweise auch die Nebensitzer gewöhnlich nicht zu stören. Vielleicht ist das einfach die Praxis-Atmosphäre.
Außerhalb der Praxis werde ich deutlich seltener angesprochen. Aber es ist in den letzten paar Jahren schon vorgekommen, dass ich beim Einkaufen, auf dem Amt, bei der Einschulung oder beim Schwimmen eine kurze Rückmeldung zum neuesten Krankheitsbild bekommen habe.
Da frage ich mich, warum ich mir selbst immer so viele Gedanken über den Datenschutz mache. Formal weiß ich gar nicht, ob ich die Leute außerhalb der Praxis mit Namen grüßen sollte (falls sich jemand fragt, warum: Bitte einmal vorstellen, ich wäre Arzt für Geschlechtskrankheiten).
Interessant wird es, wenn es sich um Patienten handelt, die meinen Mann kennen. „Schöne Grüße an den Herrn Ingenieur“ hab ich schon oft bestellen müssen – aber erst, nachdem ich gefragt habe, ob ich das auch wirklich machen soll. Die meisten Patienten sind erstmal irritiert, dass ich nachhake. Ich erkläre dann normalerweise, dass mein Mann überhaupt gar nichts davon erfährt, wenn sie in der Praxis waren und ich deswegen eigentlich den Datenschutz breche, wenn ich ihm die Grüße ausrichte. Denn damit gebe ich ja zu, dass der Patient in meiner Praxis war. Was aber die allermeisten auch nicht weiter stört, sodass ich die gewünschten Grüße ausrichten kann. Aber mehr darf ich nicht.
Wir Ärzte sehen viel, bekommen viele Schicksale mit und müssen diese dann im „Sack“ mit uns rumtragen, wie auch die Schwesterfraudoktor beschrieb. Natürlich macht sich aber die Gemütslage auch zu Hause bemerkbar. Wenn man einem Patienten sagen musste, dass er einen bösartigen Tumor hat, ist man zu Hause nicht unbedingt sofort gut drauf und fällt allen in die Arme. Man ist vielleicht etwas nachdenklicher. Oder man grübelt noch darüber, ob man Herrn Broder nicht besser hätte einweisen sollen. Oder muss nachher, wenn die Kinder spielen, doch nochmal Laborwerte vor dem Wochenende checken und Frau Kessler nochmal anrufen, weil ihr Entzündungswert erhöht war und sie ein Antibiotikum nehmen soll.
Wie geht man als Familie damit um? Natürlich schicke ich immer die Kinder raus, wenn ich mit Patienten telefonieren muss. Aber einem Kindergartenkind zu erklären, dass es jetzt mal 5–10 Minuten warten muss, weil ich beruflich telefoniere, klappt nicht immer. Ich bereite die Patienten meist schon vormittags in der Praxis darauf vor, wenn sich abzeichnet, dass ich abends von zu Hause noch telefonieren muss (z.B. wenn es um einen Laborwert geht, von dem die weitere Therapie abhängt). Damit der Kinderlärm nicht zu komisch rüberkommt. Die Patienten sehen es aber wohl eher als Engagement meinerseits und auch Kollegen, die ich vormittags nicht erreicht habe und nachmittags anrufe, sind sehr tolerant.
Die emotionale Seite ist deutlich schwieriger als die organisatorische. Wohin mit den Emotionen, die so ein Arbeitstag manchmal beim Arzt selbst hinterlässt? Ich muss zugeben, dass ich meinem Mann von den ganz harten Fällen manchmal das Gröbste erzähle, wenn die Kinder im Bett sind. Also so was wie: „Ich hatte heute einen Patienten, der ist noch nicht so alt, aber ich musste ihm sagen, dass er Bauchspeicheldrüsenkrebs hat.“ Da mein Mann schon seit dem Studium mit mir zusammen ist und damit auch ein „passives“ Medizinstudium abbekommen hat, weiß er dann grob, wie er das einsortieren muss. Und kann in gewisser Weise auch Anteil nehmen an dem, was ich zu tragen habe.
Ist das schon ein Verstoß gegen die Datenschutzverordnung? Vielleicht – das ist, fürchte ich, eine Frage für Juristen. Da der Patient damit nicht eindeutig zu identifizieren ist, finde ich es nur begrenzt problematisch. Und bei Leuten, die mein Mann in irgendeiner Weise näher kennt, halte ich ganz den Mund, damit er nichts erraten könnte. Auch wenn es manchmal schwer fällt, weil ich dann alles allein zu stemmen habe.
Ich frage mich hin und wieder, ob deswegen soviele Ärzte mit anderen Ärzten oder anderem medizinischen Personal zusammen sind. Gerade mit Leuten, mit denen sie mal intensiver zusammen gearbeitet haben. Diese gemeinsamen Erlebnisse, die man ja eigentlich zu Hause nicht teilen darf, schaffen Nähe. Manchmal mehr Nähe, als es mit dem Nichtmediziner-Partner unter diesen Umständen möglich ist.
Ich fühle mich zwiegespalten. Einerseits ist mein Mann kein hauptberuflicher Geheimnisträger, andererseits erlaubt mir sein Ingenieursberuf auch mehr Abstand vom medizinischen Alltag. Ein Phänomen, das man oft beobachtet: Wenn sich Mediziner treffen, reden sie innerhalb kürzester Zeit nur noch über Medizin. Ich weiß nicht, ob das bei allen Berufen so ist, aber bei Medizinern fällt es sehr stark auf. Ob das immer so gesund ist, sei dahingestellt. Natürlich kann so ein Gespräch ähnlich wie eine Selbsthilfegruppe funktionieren. Aber andererseits „gart man ein bisschen im eigenen Saft“. Ein Nichtmediziner-Partner gibt vielleicht manchmal eine neue Perspektive – wenn man denn doch, im Rahmen des Datenschutzes, mit ihm über solche Themen redet.
Denn irgendeine Form von Kommunikation muss sein. Sonst glaube ich nicht, dass eine Beziehung wirklich über Jahre Bestand haben kann. Speziell, wenn beruflich regelmäßig emotional schwierige Situationen vorkommen. Und irgendwann hat man sich als Paar, entweder explizit im Rahmen einer Trauung oder implizit bei langjährigen Beziehungen, versprochen, das kommende Leben miteinander zu teilen. Das Leben teilen ohne miteinander zu reden – wie soll das gehen?
Deswegen bleibt vielleicht nur das Fazit, zu dem auch ein aktueller JAMA-Artikel kommt, der sich mit eben diesem Thema beschäftigt: Man hat sowohl den Patienten gegenüber die Verpflichtung, über ihn und seine Erkrankungen zu schweigen. Man hat aber auch dem Partner gegenüber eine gewisse Verpflichtung, ihn am eigenen Leben teilhaben zu lassen. Die Schwierigkeit besteht darin, der einen Verpflichtung gerecht zu werden, ohne dabei die andere zu vernachlässigen.
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