Psychiatrische Erkrankungen mit Strom behandeln – ist das möglich? Ganz klar: Jein. Die Behandlung von Zwangsstörungen mit tiefer Hirnstimulation kann erfolgreich sein. Warum sie trotzdem problematisch ist, lest ihr hier.
Tiefe Hirnstimulation – das klingt erst mal etwas befremdlich, ist aber seit einiger Zeit in neurologischen und psychiatrischen Fachkreisen eine viel besprochene Therapieform, die bei immer mehr Krankheitsbildern zum Einsatz kommt. Doch was vielfach ein großer Erfolg zu sein scheint, sollte auch kritisch betrachtet werden. Denn es handelt sich um ein invasives Verfahren – und mögliche Langzeitfolgen und Nebenwirkungen sind noch nicht ausreichend erforscht (wir berichteten).
Während die tiefe Hirnstimulation (THS) in der Parkinsontherapie bereits seit den 1980er Jahren eingesetzt wird, ist die Behandlung inzwischen auch im psychiatrischen Bereich angekommen, etwa bei der Behandlung von Depressionen oder Zwangsstörungen (engl. Obsessive Compulsive Disorder, OCD). Kürzlich sprachen sich deutsche Experten rund um Prof. Veerle Visser-Vandewalle, Direktorin der Klinik für Stereotaxie und funktionelle Neurochirurgie an der Uniklinik Köln, dafür aus, die tiefe Hirnstimulation für OCD-Patienten zugänglich zu machen (wir berichteten). Und zwar nicht nur, wie bisher, als letzten Ausweg für behandlungsresistente Patienten, sondern „als Teil eines sequenziellen, synergetischen Ansatzes zur Ergänzung der Wirkungen konventioneller Behandlungen“. Das Problem: Es liegen nur wenige Langzeitstudien vor, die meisten davon mit geringen Probandenzahlen.
Neben OCD wurde in der Vergangenheit bereits Depression mit tiefer Hirnstimulation behandelt. Die Studienlage dazu ist deswegen interessant, weil auch bei der Depressionsbehandlung erste klinische Studien erfolgsversprechend aussahen. Dieser Erfolg ließe sich aber nicht auf die Praxis übertragen, kritisieren jetzt deutsche Forscher in einem Statement in Nature Medicine. „Die Wirkweise der tiefen Hirnstimulation bei psychiatrischen Erkrankungen ist noch nicht hinreichend geklärt“, sagt Prof. Surjo Soekadar, Leiter des Fachbereichs Translation und Neurotechnologie an der Charité und Mitautor des Statements, im Gespräch mit DocCheck. Denn die Empfehlung, tiefe Hirnstimulation zugänglicher für behandlungsresistente Patienten mit OCD zu machen, basiert auf gerade einmal 7 Studien mit insgesamt 72 Probanden.
„Wenn man die Langzeitstudien mit 6–7 Jahren Beobachtungszeit ansieht, zeigt etwa jeder zweite Patient eine Reduktion der OCD-Symptome um mehr als 35 % durch eine tiefe Hirnstimulation. Aber das heißt auch, dass viele Patienten eben nicht in dem Maße auf die Behandlung ansprechen, in dem man es sich wünschen würde“, erklärt Soekadar. Die Arbeitslosenquote von OCD-Patienten würde sich zwar nach einer THS von ungefähr 80 % auf 60 % reduzieren, es käme aber auch zu Verschlechterungen der kognitiven Funktionen und zu Erschöpfungsphänomenen – und die müssten noch genauer verstanden werden.
Eine THS ist ein invasiver Eingriff und im Hinblick auf die Geschichte der psychochirurgischen Verfahren (wir berichteten) gibt es hier auch eine historische Verantwortung. Die Entscheidung für eine Operation am Gehirn muss bedacht und umsichtig geschehen. „Das muss man wirklich betonen, es geht hier nicht um die Heilung einer psychischen Erkrankung. Es geht um die Unterdrückung bestimmter Symptome, die nicht bei allen Patienten glückt. Daher muss die Indikation für eine THS sehr gewissenhaft gestellt werden“, sagt auch Soekadar.
„Hier sind die Ärzte gefragt. Da kommen Patienten, deren Leidensdruck ist enorm groß. Es ist also die Verantwortung der Ärzte, die Aufklärung und Durchführung der THS bei psychiatrischen Erkrankungen besonders genau zu machen.“ Visser-Vandewalle und Kollegen sehen das weniger streng, auch wenn sie betonen, dass jede Intervention in ein gesamttherapeutisches Konzept eingebettet sein muss. Sie wünschen sich, dass die tiefe Hirnstimulation nicht mehr als letzter Ausweg gesehen wird, sondern ihren Weg in die Mitte der Therapiemöglichkeiten für OCD findet. „Für mich stellt die Implantation von Stimulationselektroden aber eine Maßnahme dar, die erst erwogen werden sollte, wenn andere nicht-operative Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft wurden“, kritisiert Soekadar den Ansatz.
Aber was kann sonst die Lösung für behandlungsresistente Patienten sein? Die Antwort scheint auf dem Papier ganz einfach, ist in der Praxis aber leider oft unerreichbar: Man müsste Patienten mit OCD erst mal gemäß bereits bestehenden Leitlinien behandeln, bevor man auf noch nicht in Leitlinien festgehaltene Verfahren wie THS zurückgreift. Diese leitliniengerechte Behandlung ist aber oft schwierig. Einerseits, weil die Hemmschwelle für Patienten, sich Hilfe zu suchen, sehr hoch ist. Andererseits sind Therapieplätze knapp, Stundenkontingente nicht angemessen oder die Einhaltung der Medikation gestaltet sich als schwierig – durchaus üblich, vor allem bei OCD-Patienten. Patienten bekommen oft keine stationäre Behandlung oder adäquate Verhaltenstherapie, denn all das braucht Zeit. „Es ist in unserem System leider nicht selbstverständlich, dass Patienten diese intensive Versorgung bekommen. Das wäre natürlich enorm wichtig“, bestätigt Soekadar.
„Ich bin jedoch nicht gegen THS, im Gegenteil. Ich finde, dass jeder ein Recht auf eine THS hat und dass man diese verfügbar machen muss – für die Patienten, die am Ende keine andere Therapieoption mehr haben.“ Denn neben der tiefen Hirnstimulation gibt es auch nichtinvasive Stimulationsverfahren, die in Zukunft eine größere Rolle spielen könnten. „Wir arbeiten auch an nichtinvasiven Methoden, mit denen man auch in die Tiefen des Gehirns stimulieren kann. Dieses Verfahren beinhaltet zudem, dass man die Hirnaktivität misst und in Echtzeit die Parameter der Hirnstimulation individuell auf die Zustände des Gehirns anwendet […] um nur dann zu stimulieren, wenn pathologische Zustände auftreten“, sagt Soekadar. „Es kann also sein, dass es in ein paar Jahren Stimulationsmethoden gibt, die keine Implantation mehr erfordern.“
Aber auch hier gibt es Hürden, unter anderem die EU. In der Medical Device Regulation, die Ende letzten Jahres publiziert wurde und ab 2024 gelten soll, wurden unter anderem Hirn-Stimulationsverfahren in puncto Sicherheit aufgestuft – und zwar unabhängig davon, ob sie invasiv sind oder nicht. In der Verordnung heißt es, dass manche Verfahren zur Hirnstimulation zwar nichtinvasiv seien, aber die elektrischen Ströme oder magnetischen bzw. elektromagnetischen Felder in den Schädel eindringen und die neuronale Aktivität des Gehirns verändern würden. Solche Veränderungen könnten langanhaltende Auswirkungen und unerwünschte Effekte haben, die möglicherweise schwer oder nicht reversibel sind. Nichtinvasive Behandlungsmethoden sind somit schwer zu implementieren, da sie derzeit in derselben Risikostufe zu finden sind wie invasive Verfahren.
Es tut sich also viel, in Sachen Therapie bei Zwangsstörung. Dennoch sollte man nicht vergessen, dass funktionierende Leitlinien existieren und nun mal eine leitliniengerechte Behandlung sicherstellen sollen. „Es darf nicht in Vergessenheit geraten, dass die kognitive Verhaltenstherapie immer noch am besten hilft“, so Soekadar. Diese psychotherapeutische Herangehensweise ist sehr aufwendig, weil man eine starke Vertrauensbasis braucht. Aber auch, weil die zeitintensive Behandlung, die OCD-Patienten bräuchten, für viele Ärzte einfach nicht leistbar ist.
Ein invasiver Eingriff wie eine THS ist keine Entscheidung, die innerhalb weniger Wochen getroffen werden kann. Man muss den Patienten durch und durch verstehen und alle Kontraindikationen kennen. Ebenfalls muss die Versorgung nach der Implantation sichergestellt sein. „Das Verfahren hat also einen sehr langen Vorlauf“, erklärt Soekadar. Deswegen würden auch Patienten, die tatsächlich eine THS bräuchten – nachdem alle anderen Therapieoptionen ausgeschöpft sind – diese oft nicht bekommen.
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