Die Fachentscheidung eines Arztes hat viele Gründe – nicht zuletzt auch die Menschen, die uns begegnen und inspirieren. Wie mein Ausbilder Christian: Er schallte Kinderhüften wie kein anderer.
Neulich hat mich eine Medizinstudentin gefragt, was mich dazu gebracht hat, letztendlich Pädiatrie „zu machen“ und kein anderes Fachgebiet der Medizin. Die Frage der Fachentscheidung stellt sich jedem Mediziner irgendwann, und meine Erklärung ist: Es sind immer bestimmte Fügungen oder Wendungen, die einem den Weg aufzeigen. Außerdem sind es Menschen, mit denen diese Entscheidungen verknüpft sind. Manchmal bewirken Umzüge etwas, passende Stellenangebote, manchmal die Liebe oder die Familie, die einen hierhin oder dorthin verschleppen. Aber oft sind es Menschen.
Hier möchte ich ein paar meiner Kinderarzt-Heroes vorstellen. Zum ersten Teil dieser Reihe kommt ihr hier.
Christian* steht hier stellvertretend für viele der älteren Assistenzärzte, die mich während meiner Ausbildung im hiesigen Kreiskrankenhaus begleitet haben. Angefangen bei den zwei Jungassistenten Karin* und Michael*, die ein eingeschworenes Team bildeten, und mich kleinen PJler während meiner drei Monate unter ihre Fittiche nahmen. Bei Karin durfte ich ein halbes Jahr später als Arzt im Praktikum auf Station einsteigen, von ihr habe ich unendlich viel Geduld gelernt und die Disziplin, Dinge, die ich nicht verstanden habe oder noch nie gehört, am Abend im dicken Pädiatrie-Lehrbuch nachzuschlagen (nein, noch kein Internet damals). Karin ist inzwischen leitende Oberärztin, sie hat es sich verdient.
Christian hat mir dann das Sonografieren der Säuglings-Hüfte gezeigt. Noch heute sehe ich ihn vor mir in diesem engen Untersuchungszimmer der Säuglingsstation, mit einem Frischling zwischen uns auf der Liege, in einem Handtuch verpackt, die Hüften frei. Mein Kollege hält beinahe blind den Schallkopf auf den Beckenkamm, das Bild leuchtet auf dem Schirm auf, exakt die richtige Achsenstellung, alle Landmarken zum Hüftschall angeschnitten. „Zack, Bild!“, sagt Christian. Es war noch die Zeit vor den Ultraschallschienen nach Graf, geschweige denn der Halteapparatur für den Schallkopf. Das kam alles viel später.
Sonogel abgetupft, Handtuch geschickt umgewickelt, Drehen des Säuglings, Christian hält blind den Schallkopf, das Bild leuchtet auf, wieder exakt die richtige Achsenstellung, alle Landmarken zum Hüftschall angeschnitten. „Zack, Bild!“, sagt Christian nochmal. Ich habe mein Leben lang niemals die ein oder zwei Minuten-Marke erreicht, die er fürs Schallen der Hüfte gebraucht hat. „Meine“ erste Hüfte dauerte zwanzig Minuten, das Baby genervt, Christian wie immer geduldig, bis die Aufnahmen erledigt waren.
Christian hat mir das Handwerk in der Pädiatrie beigebracht – das Ultraschallen, das Blutabnehmen mit abgebrochenem Kanülenkonus, das Lumbalpunktieren, die Untersuchung, die Techniken der U2, die Entwicklungslagen des Säuglings. Mag sein, dass sich die Assistenten tatsächlich wild abwechseln, sicher haben sie das getan, denn wir PJler und später Jungassistenten rotierten durch alle Abteilungen: Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder und Kinderintensiv. Aber immer ist es Christian, der mir vor Augen kommt, wenn ich mich meiner Fertigkeiten besinne. Er war der Geduldigste im Erklären, der Genaueste im Arbeiten, der Geschickteste im Umgang mit den Kindern.
Christian beschäftigt sich nicht mit den Kindern, als sei er der Arzt im Kittel, der autoritäre Erwachsene, sondern er erscheint den Kleinen immer als Freund, als Kumpel, als Vertrauensperson. Er spricht mit Kleinkindern, als ob er sprachbegabte Schulkinder vor sich habe und mit Schulkindern und Jugendlichen, als ob sie schon erwachsen seien. Er vermittelt ihnen dadurch Respekt und Ernsthaftigkeit. Gleichzeitig ist er lustig und fantasievoll und schnappt sich einen Vierjährigen, um ihm kurz auf dem Krankenhausflur Maradonas Fußballkunststücke vorzuführen (das war die Zeit).
Christian hat mir auch beigebracht, wie wir Kinderärzte mit den Eltern umgehen sollten. Von ihm habe ich gelernt, dass keine Behandlung an den Eltern vorbeigeht, und kein Kontakt ohne das Wohlwollen der Eltern funktioniert. Trotzdem begrüßte er immer zuerst das Kind und dann die Eltern. Wenn er mich mitnahm in die Tagambulanz, erhob er stets zuerst die Anamnese mit dem kleinen Patienten, egal, wie irritiert die Eltern schauten. Jedenfalls, wenn der Patient schon erzählen konnte, was ihn bedrückte.
Christian machte irgendwann seinen Facharzt, wurde Funktionsoberarzt und wechselte in die Arbeit in der Ambulanz als Allergologe. Ich selbst blieb in der Ausbildung, bekam eigene PJler und Jungassistenten, um sie in ihrer ersten Zeit zu betreuen. Christian deckte den Hintergrund ab bei manchen Kreißsaaleinsätzen und war immer verlässlicher Kollege, wenn es etwas Kniffliges zu klären gab. „Warte kurz“, murmelte er dann ins Telefon, zwei Minuten später stand er im Patientenzimmer und half, beriet und entschied.
Als er schließlich seine eigene Praxis gründete in der großen Stadt, war es für mich der erste Schritt zum Erwachsensein als Kinderarzt, zur Reifeprüfung. Klar, hatten wir noch zwei oder drei Oberärzte, die sowieso mit der Klinik verheiratet waren. Aber wenn sich die erfahrenen Assistenten von der Klinik verabschiedeten, warst du von einem Tag zum anderen nicht mehr der „jungsche“ Anfänger, sondern voll in der Verantwortung. Dies habe ich selten so empfunden, wie in dem Moment, als Christian unsere Kinderklinik verließ.
Toller Typ.
* im Gegensatz zu Michael Lowry aus dem ersten Teil dieser kleinen Serie habe ich die Namen der Kollegen hier verfremdet. Sie arbeiten noch, ich möchte sie nicht mit dem Blog hier belästigen.
Bildquelle: Hamza Bounaim, unsplash