Ich bin Pädiater geworden, weil ich inspiriert wurde – unter anderem von Dr. Michael Lowry, einem Chefarzt im Norden Englands, wo ich Famulatur machte. Wir fuhren Jaguar und stoppten zum Mittag im Pub, aber was mir wirklich imponierte, war etwas anderes.
Neulich hat mich eine Medizinstudentin gefragt, was mich dazu gebracht hat, letztendlich Pädiatrie „zu machen“ und kein anderes Fachgebiet der Medizin. Die Frage der Fachentscheidung stellt sich jeder Mediziner irgendwann und meine Erklärung ist: Es sind immer bestimmte Fügungen oder Wendungen, die den Weg zeigen.
Außerdem sind es Menschen, mit denen diese Entscheidungen verknüpft sind. Manchmal bewirken Umzüge etwas oder passende Stellenangebote, manchmal die Liebe oder die Familie, die einen hierhin oder dorthin verschleppt. Aber oft sind es Menschen.
Ich möchte ein paar meiner Kinderarzt-Heroes vorstellen.
Meine erste Famulatur hatte ich in Berlin hinter mich gebracht, klassisch Chirurgie („da musst du nur Haken halten und darfst nähen“ – von wegen), die zweite sollte mich in ein internistisches Fach führen, und: Ich wollte ins Ausland gehen. Oh Wunder, ich war bis dato noch nie geflogen, hatte ein wenig Angst davor. Da mein Englisch aber ganz gut war, sollte es Großbritannien werden. Mein erster Kontakt mit der Insel – es wurde Liebe auf den ersten Blick. Ich bin seitdem immer wieder zurückgekehrt.
Ich suchte nach einem Krankenhaus am Meer. Wenn schon Famulatur in den Semesterferien, dann wenigstens etwas Freizeitspaß nebenbei. Bewerbungen gingen raus – ja, damals noch per Brief – und nur eine Zusage kam herein: im Norden von England, Sunderland bei Newcastle-upon-Tyne. Am Meer. Wie ich später erfuhr, hatte ich die Stelle der deutschen Personalchefin des Krankenhauses zu verdanken.
Ich wohnte in einem wunderschönen englischen Reihenhaus unweit des Hospitals. Ich lernte viele neue Kollegen kennen, in Erinnerung blieben mir vor allem Nigel Callaghan, Pediatric Senior und Falkland-Krieg-Veteran, sowie Cindy Sheds, die frisch gebackene Kinderärztin aus Schottland, die hier ihre erste Stelle antrat. Sie durfte gleich die Studenten beaufsichtigen, zwei Engländer und mich, den Deutschen. Aber mein eigentlicher Kinderarzt-Hero, von dem ich hier berichten will, war der Chefarzt der Abteilung, der Senior Consultant, der Star: Dr Michael Lowry.
Im englischen Ausbildungssystem, vielleicht auch nur hier in Sunderland, sind die Studenten dem Chefarzt direkt zugeordnet, jedenfalls sobald er morgens in die Abteilung kommt. Lowry kam gerne später – angeblich nach dem Golfspielen – und hielt erst einmal seine Visiten auf allen Stationen ab. Die Studenten waren immer im Schlepptau, gerne wurden wir dabei „grilled“, wie Nigel das nannte, also abgefragt. Ich konnte mit meinem noch frischen Wissen aus Deutschland (nicht) glänzen, Dr. Lowry war großzügig, sprich nachsichtig, in seinem „teaching“.
Am frühen Nachmittag war stets „outpatients“-Sprechstunde, also die ambulante Visite, meist direkt an der poliklinischen Abteilung des Krankenhauses, manchmal auch etwas außerhalb in einem Vorort, zu dem wir mit Lowrys bronzenem Jaguar fuhren. An manchen Tagen hielten wir im Pub, um ein Mittagessen zu uns zu nehmen (meist ein Pint Ale und verlorene Eier). In England gibt es keine niedergelassenen Kinderärzte, sondern die Kleinen werden vom GP (General Practitioner, dem Hausarzt) an die kinderärztlichen Abteilungen der Krankenhäuser in die Outpatient-Sprechstunde überwiesen.
Aber wirklich aufgeblüht war er, wenn er die Kinder untersuchte. Er ist kein großer Mann gewesen, eher untersetzt, aber mit seiner dicken Brille und der tiefen Stimme konnte er einem Respekt einflößen. Bei den Kindern war er anders. Er giggelte, er gurgelte, er plapperte und schnatterte, er kumpelte mit den Größeren und respektierte die Jugendlichen. Seine großen Hände konnten unglaublich filigran arbeiten beim Palpieren der Fontanelle oder beim Abtasten so mancher geblähten Drei-Monats-Bäuche. Sein rotes Stethoskop hatte er um den Hals baumeln, ganz „british style“, aber es war ihm das liebste Ablenkungsmittel, wenn ein Kind Angst zeigte. Dann wurde das Hörrohr zum Kitzelinstrument, zur Streichelschlange, zum Spielzeug.
Fachlich werde ich nie vergessen, dass ein „Blinddarm“ sehr unwahrscheinlich ist, wenn der Proband noch auf der Liege hoch und runter hüpfen kann, wie mir Lowry augenzwinkernd auf den Weg gab. Außerdem war es bereits 1991 das beste Mittel für einen Magen-Darm-Infekt, wenn das Kind alles isst, worauf es Appetit hat, deswegen zankte der Chefarzt sich trotzdem regelmäßig mit den Nurses.
Aber am meisten habe ich von ihm gelernt durch das bloße Zusehen. Durch das Beobachten seiner Warmherzigkeit, seiner Ernsthaftigkeit in der Lehre, seines respektvollen Umganges mit Alt oder Jung, Arm oder Reich.
Den Kindern zuliebe.
Michael Lowry ist diesen Mai verstorben.
Bildquelle: Alexandre Brondino, unsplash