Anfang des Monats hat China seine Null-Covid-Maßnahmen gelockert, jetzt prognostizieren Forscher dem Land eine düstere Zukunft. Wie schlimm wird’s wirklich?
Wissenschaftler befürchten einen massiven Anstieg der Corona-Zahlen in China, nachdem das Land sich von seiner strikten Null-Covid-Strategie verabschiedet hat. Das Hauptproblem der Volksrepublik ist, dass ein Großteil der Bevölkerung aufgrund der Null-Covid-Strategie noch keinen Kontakt zu SARS-CoV-2 hatte, diesbezüglich also immunnaiv ist. Oft heißt es auch, das Land habe es nicht geschafft, alle Altersgruppen ausreichend zu impfen. Das ist aber nur zum Teil richtig.
Die Impfquote für zwei Impfungen liegt in China bei über 90 %, weit höher als etwa in Deutschland. Die Quote der Menschen mit mindestens einem Booster ähnelt jener in Deutschland. Suboptimal geimpft sind aber offenbar vor allem die Menschen über 80 Jahren mit einer Zweifach-Impfquote von 66 % Ende November 2022. Bei Menschen zwischen 60 und 80 sieht es dagegen deutlich besser aus, mit Zweifachimpfquoten oberhalb von 80 %. In der Volksrepublik dürfen allerdings nur Impfstoffe verabreicht werden, die in China entwickelt und produziert worden sind. Das sind in erster Linie die Totimpfstoffe SinoVac und Sinopharm. Diese haben allerdings eine geringere Wirksamkeit gegenüber neueren Corona-Varianten als die mRNA-Impfstoffe, wobei hier die Datenlage nicht sehr gut ist.
Was ein fehlender Impfschutz in der älteren Bevölkerung anrichten kann, zeigte das Extrem-Beispiel Hongkong. Lange war die Metropole zwar mit ihrer Zero-Covid-Strategie erfolgreich, Anfang 2022 wurde sie aber dann doch von der hochansteckenden Omikron-Variante überrollt. Die Impflücke hatte zur Folge, dass die Todeszahlen in kurzer Zeit extrem in die Höhe schossen (wir berichteten). Das dortige Gesundheitssystem war völlig überlastet.
In China soll sich jetzt ein ähnliches Bild abzeichnen, auch wenn die Lage laut Reportern vor Ort sehr unübersichtlich ist. Viele Informationen, die derzeit auf sozialen Medien kursieren, stammen von dem Falung-Gong nahen Portal Epoch Times, das für Falschnachrichten zu Corona in China bekannt ist. Reuters-Journalisten vor Ort berichten seit einigen Tagen von zahlreichen überlasteten Krematorien in der Hauptstadt Peking. Offiziell vermeldet die nationale Gesundheitsbehörde (NHC) seit Beginn der Pandemie nur 5.241 Covid-Tote. An Chinas offiziellen Corona-Statistiken gibt es aber erhebliche Zweifel.
Verschiedene Forschergruppen haben Modelle entwickelt, die die Entwicklung der Infektions- und Todeszahlen in den kommenden Monaten annäherungsweise beschreiben sollen. Ein Modell von Forschern um Kathy Leung nutzt unter anderem die Corona-Ausbrüche in Hongkong als Grundlage für die Berechnungen. In ihrem Preprint kommen die Autoren zu dem Schluss, dass in den kommenden Monaten in China rund 1 Million Menschen sterben könnten, wenn keine besonderen Maßnahmen getroffen werden. Die Studie legt aber nahe, dass der Anstieg der Infektionen verlangsamt und die Zahl der Todesfälle verringert werden könnte, wenn 85 % der Bevölkerung eine vierte Dosis eines heterologen Impfstoffs erhalten – also einen anderen als der inaktivierten Virusimpfstoffe, die die meisten Menschen im Land bekommen haben. In Kombination mit der Verabreichung antiviraler Medikamente an Risikogruppen könnte die vierten Impfung die Zahl der Todesfälle um bis zu 35 % senken.
Allerdings könnte es für das Land schon zu spät sein, um von der Wirkung der vierten Dosis zu profitieren, meint James Wood, Infektiologe von der University of New South Wales in Sydney, Australia. Dafür sei das Virus bereits zu weit verbreitet, nachdem viele Beschränkungen aufgehoben wurden. Er ist auch „nicht davon überzeugt, dass eine zusätzliche Dosis einen großen Unterschied bei der Übertragung machen wird“, da die zirkulierenden Omikron-Varianten besonders gut darin sind, sich der Immunreaktion des Körpers zu entziehen.
Das Modell vom Institute for Health Metrics and Evaluation an der University of Washington in Seattle hat ein ähnlich schlechtes Szenario zu bieten: Bis Ende 2023 könnte die Zahl der Toten auf über 1 Million ansteigen. Etwas bessere Aussichten liefert das Modell, wenn einige Social-Distancing-Maßnahmen, die Impfkampagne und die Verabreichung von Antivirals aufrecht erhalten werden. Dann rechnen die Forscher „nur“ mit 300.000 Covid-Toten bis April nächsten Jahres.
Ein Best-case-Szenario kommt von der Zeitung The Economist, beruhend auf Daten chinesischer Wissenschaftler: Wenn 90 % der Bevölkerung geimpft sind und genügend Antivirals zur Verfügung stehen, um 90 % der schweren Covid-Fälle bei Menschen über 60 behandeln zu können, dann bliebe die Zahl der Todesopfer trotz Aufhebung aller Einschränkungen unter 72.000. Am anderen Ende des Spektrums stehen ihrem Modell zufolge aber ebenfalls um die 1 Million Covid-Tote. Das sind düstere Aussichten.
Die vielen Wenns und Abers zeigen: Alle Prognosen zum Verlauf der SARS-CoV-2-Winterwelle in China sind mit hohen Unsicherheiten behaftet. Sicher scheint allein, dass es eine sehr große Welle geben wird – oder schon gibt. Alles weitere werden die nächsten Monate zeigen müssen.
Bildquelle: Thomas Chan, unsplash.