BEST OF 2022 | Mein Patient ist stark übergewichtig, als LKW-Fahrer bewegt er sich zu wenig. Eigentlich müsste er bei seinem Blutzuckerwert Medikamente nehmen – aber das will er nicht. Meine Lösung: ein altbewährtes Lebensmittel.
Viele Ärzte sehen sich selbst gern als Heiler. Dummerweise lautet die Definition des zugehörigen Wortes „Heilen“ laut Duden: „durch entsprechende ärztliche, medikamentöse o. ä. Behandlung beheben, beseitigen.“ Das mag für diverse Infektionserkrankungen gelten: Die Menschheit wurde von den Pocken komplett „geheilt“, die Antibiotikagabe bei einer Nierenbeckenentzündung „heilt“ den Patienten auch komplett, weil die Erkrankung danach beseitigt ist und im Normalfall auch nicht wieder kommt.
Leider sehen wir inzwischen in der Praxis deutlich mehr Krankheitsbilder, die wir nicht mehr „heilen“ können, sondern nur noch verwalten. Wer sich an dem Begriff stört: DMP steht für Disease Management Programm – und „Management“ bedeutet „Verwaltung“ oder „Leitung“. Und leider laufen diese Programme auch genau so ab – wir schauen, dass die Erkrankung, wenn möglich, nicht völlig aus dem Ruder läuft und zu viele Folgeschäden hinterlässt, aber „Heilen“, im Sinne von Beseitigen, schaffen wir nicht.
Das liegt allerdings natürlich auch daran, dass es sich dabei um sehr unterschiedliche Arten von Erkrankungen handelt. Infektionserkrankungen zu heilen ist insofern einfacher, weil es etwas im Körper gibt, was da nicht hingehört (z. B. Bakterien). Wenn ich diesen Faktor als Arzt entferne (z. B. mit Antibiotika), ist die Krankheit beseitigt und der Patient geheilt.
Bei den heute vorherrschenden Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck und KHK ist es deutlich komplexer. Den letztlich wissen wir immer noch nicht, warum der eine Patient einen Diabetes bekommt und der andere nicht. Ähnlich wie beim Bluthochdruck, gibt es definierte Risikofaktoren, aber keinen einzelnen auslösenden Faktor, den ich wie bei einem Infekt eliminieren kann.
Und unser Verständnis dieser Erkrankungen ändert sich auch (glücklicherweise): Ich habe noch gelernt, dass der Patient erst adipös ist, daraufhin quasi „die Insulinrezeptoren verfetten“ und damit der Diabetes ausgelöst ist. Heute weiß man, dass die Insulinresistenz der Adipositas vorausgeht und die hohen Insulinspiegel dann eher Übergewicht begünstigen (Insulin wird nicht umsonst in der Tierzucht als Masthormon eingesetzt). Deswegen versucht man inzwischen auch medikamentös/therapeutisch, dort anzusetzen und Insulin zu sparen.
Wobei für mich dabei immer noch die Frage offenbleibt, warum wir immer mehr Patienten mit Insulinresistenz sehen. Denn auch die Insulinresistenz ist ja kein Bakterium, mit dem man sich infiziert, sondern muss irgendwie entstehen.
Meine aktuelle Theorie (nein, nicht bewiesen, kann gern in den Kommentaren diskutiert werden): Wir leben einfach so an unserer Biologie vorbei, die sich über tausende von Jahren an völlig andere Grundvoraussetzungen adaptiert hat, dass unser Körper damit überfordert ist. Viele Nahrungsmittel heutzutage enthalten Zuckermengen, die vor 400 Jahren undenkbar waren. Hinzu kommt, dass wir viele Zusatzstoffe zu uns nehmen, die es früher in Nahrungsmitteln überhaupt nicht gab und deren Auswirkungen auf unseren Körper, unser Mikrobiom etc. noch nicht wirklich klar sind.
Was also tun? Nein, wir sollen nicht die Zeit zurückdrehen und auf Bäume klettern. Aber ja, ich denke schon, dass eine gesellschaftliche Diskussion sinnvoll wäre, wie wir unseren Nahrungsmittelkonsum (bzw. auch die Werbung dafür) besser regeln. Denn die ganzen Zusagen von freiwilligen Maßnahmen der Industrie bringen, meines Erachtens, nichts. In anderen Ländern hat man mit Zuckersteuern oder Werbeeinschränkungen gute Erfolge gehabt. Warum ist so etwas in Deutschland nicht möglich?
Denn dass es grundsätzlich funktioniert, dass Patienten ihre Insulinresistenz loswerden, hab ich inzwischen bei vielen gesehen, mit denen ich über ihre Ernährung gesprochen habe. Diejenigen, die eine Ernährungsumstellung wirklich schaffen (nicht als kurzfristige Diät, sondern wirklich als langfristige Ernährungsumstellung), deren Zuckerwerte sind schnell kein Problem mehr. Oft auch kombiniert mit einer Gewichtsreduktion, aber das ist ein anderes Thema.
Deswegen möchte ich meinen in der Hinsicht schönsten Fall hier noch erwähnen: Ein Patient kam zu mir, stark übergewichtig, Bewegungsmangel, LKW-Fahrer. HbA1c 7,4 %, also nah an der Grenze, bei der eigentlich eine medikamentöse Gabe zu diskutieren ist. Er wollte das aber nicht so gern und fragte mich, was er sonst noch tun könnte. Ich empfehle in solchen Fällen oft Ernährungstagebücher, um sich überhaupt erstmal bewusst zu machen, was man so isst. Aber in dem Fall war recht schnell klar, dass auch direkt ein paar konkrete Empfehlungen her müssen, was er verbessern kann. Wir haben uns dann auf eine sehr simple Maßnahme geeinigt: Haferflocken. Ich hatte mehrfach gelesen, dass Haferflocken (einfache Flocken, nicht zusatzgesüßt) den Körper wieder empfindlicher für Insulin machen können und mein Patient wollte das gerne mal ausprobieren.
Der nächste HbA1c war natürlich für uns beide sehr interessant – und ich war selbst baff, wie groß der Effekt war: 5,9 %! Ohne medikamentöse Maßnahmen, nur mit Ernährung (in dem Fall Zuckerreduktion und Haferflocken). Da bekommt Hippokrates’ Spruch „Deine Nahrung soll Deine Medizin sein“ eine völlig neue Bedeutung!
Das alles bestärkt mich sehr darin, mit den Patienten deutlich mehr über Ernährung zu sprechen, als es in unseren Krankheitsverwaltungsprogrammen oft vorgesehen ist. Denn obwohl eine Ernährungsberatung zwar möglich ist, beschränkt die sich laut Angaben unserer Patienten oft auf völlige Allgemeinplätze, die wenig konkret sind und auch entsprechend wenig Effekt haben. Sich konkret mit dem Patienten hinsetzen und ihm erläutern, was wichtig ist (und warum) hat meiner Erfahrung nach bessere Effekte. Diese hausärztliche Ernährungsberatung wird nur leider überhaupt nicht bezahlt.
Ein paar kurze Dinge, die ich meinen Patienten dabei meistens erzähle:
Meiner Erfahrung nach sind das Dinge, die die Patienten gut verstehen und auch insgesamt gut umsetzen können.
Deswegen also mein Plädoyer: Wenn wir als Gesellschaft irgendwie einen Weg finden wollen, um mit der Diabetes-Epidemie klarzukommen, müssen wir an einigen Punkten ansetzen. Die zwei wichtigsten aus meiner Sicht:
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