Eine Mischung aus selbstverliebter Bedenkenträgerei, Klientelpolitik und politischer Naivität bringt das E-Rezept in die Bredouille. Das ist Digitalisierung made in Germany.
Elektronische Rezepte sind in zahlreichen europäischen Ländern mittlerweile Standard – teilweise, vor allem in Skandinavien, schon seit über zehn Jahren. Aber auch in vielleicht vergleichbareren Ländern wie Frankreich kommen Ärzte nur noch ausnahmsweise auf die Idee, konventionelle Papierrezepte ausstellen. Deutschland dagegen liebt sein Muster 16, das dem Patienten in die Hand gedrückt wird, der damit einmal, wenn das Medikament nicht vorrätig ist, häufig auch zweimal, in die Apotheke rennt.
In Fällen, in denen das mit dem „in die Hand drücken“ nicht möglich oder nicht gewünscht ist, wird das Muster 16 gefaxt oder anderweitig übermittelt. Datenschutz beim Fax ist bekanntlich ein Problem, aber man drückt ein Auge zu. Es ist bisher kein Fall bekannt, in dem Datenschützer im Konzert mit einer Kassenärztlichen Vereinigung das Muster 16 zu Fall gebracht haben, weil Ärzte es faxen. Wäre auch keine so gute Idee für die Volksgesundheit.
Genau das ist jetzt aber dem E-Rezept in Schleswig-Holstein passiert. Die KV Schleswig-Holstein (KVSH) hat als Reaktion auf eine als Brief an die KVSH-Chefin Monika Schliffke geschickte Einschätzung des Unabhängigen Landesbeauftragten für Datenschutz (ULD) in Kiel angekündigt, den Rollout des E-Rezept in dem KV-Bezirk zu stoppen, bevor er überhaupt begonnen hat (Schliffke hatte zuvor um diese Einschätzung gebeten).
Wir kommen weiter unten auf die Inhalte der Einschätzung zurück, aber vorher kurz zum Hintergrund: Die gematik ist eine IT-Organisation des deutschen Gesundheitswesens, bei der der Staat, die Krankenkassen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) die tonangebenden Gesellschafter sind. Sie entwickelt – nach einem gescheiterten Versuch zu Zeiten, als noch Ulla Schmidt bzw. dann Philipp Rösler Bundesgesundheitsminister(in) waren – seit einiger Zeit ein E-Rezept für Deutschland, das auf der Telematikinfrastruktur (TI) läuft und das in den letzten Monaten an sich erfolgreich in den beiden KV-Regionen Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe getestet wurde. Geplant war bisher, dass diese Testphase Ende August endet und dass ab September ein schrittweiser Rollout startet, zunächst in den besagten Regionen, dann darüber hinaus. Die Betonung liegt auf schrittweise: Praxen sollen die Muster 16 Formulare zunächst weiter nutzen können, es gibt keinen Zwang.
Technisch wird das E-Rezept auf einem Server der TI abgelegt und dort von der Apotheke abgerufen. Als „Wegweiser“ dient ein QR-Code, den die Praxis-IT bei elektronischen Verordnungen erstellt und für dessen Übertragung zur Apotheke es im Moment zwei und ab 2023 drei offiziell genehmigte Möglichkeiten gibt:
Zurück an die deutsche Küste. Was genau stieß den Datenschützern jetzt auf? Und warum buckelt die KVSH sofort? Diese zwei Fragen müssen getrennt beantwortet werden. Der ULD stößt sich NICHT an den oben skizzierten, regulär vorgesehenen Übertragungsverfahren des E-Rezepts. Der ULD hat auch KEINERLEI Bedenken gegen das E-Rezept der gematik insgesamt. Er stößt sich vielmehr an einem Bypass-Verfahren, das einige Praxis-IT-Hersteller, in Schleswig-Holstein ging es konkret um MediSoftware und um die CompuGroup, implementiert haben. Diese haben das nicht mit böser Absicht implementiert, sondern um die Nutzbarkeit des E-Rezepts für einen Überbrückungszeitraum zu verbessern. Einen Überbrückungszeitraum, in dem die E-Rezept-App noch nicht weit verbreitet ist und in dem das oben geschilderte eGK-Verfahren noch nicht zur Verfügung steht.
Bei diesem Bypass-Verfahren druckt die Praxis den QR-Code nicht aus, sondern verschickt ihn per Mail oder auch SMS an den Patienten oder an die gewünschte Apotheke. Dieses Verfahren spiegelt zum einen jene Anwendungssituationen wider, in denen heute das Muster 16 gefaxt wird. Zum anderen öffnet es jenen Patienten den Weg zu Versandapotheken und/oder Rezeptvorbestellungen in der Offizin-Apotheke, die keine E-Rezept-App haben UND die nicht in die Praxis kommen können oder – Stichwort Wiederholungsrezepte – nicht in die Praxis kommen wollen.
Das Problem an dem Bypass-Verfahren ist, dass der QR-Code auf diesem Weg ohne ausreichende Sicherung übermittelt wird und damit zum Beispiel von App-Herstellern im Apothekenumfeld ausgelesen werden kann. Ausreichende Sicherung muss man natürlich definieren. Der ULD wünscht sich hier das volle Programm, also Transportverschlüsselung plus Patientenidentifikation via zum Beispiel Zwei-Faktor-Verfahren. Der Code selbst enthält keine personenbezogenen Daten, er verschafft aber Zugang zu solchen, sprich – das ist ja der Sinn der Sache – zu den vollständigen Rezeptdaten auf dem Rezept-Server. Wichtig: Der Mail-/SMS-Versand des E-Rezepts geschieht nicht irgendwie heimlich, sondern nur mit ausdrücklichem Einverständnis des Patienten. Dem ULD reicht das nicht. Er verweist auf „objektive Rechtspflichten“, die „nicht zur Disposition“ ständen.
Die Absurdität offenbart sich, wenn man sich etwas tiefer hineindenkt. Wenn ich als Patient in die Praxis gehe und mir dort ein E-Rezept als QR-Code-Formular ausgehändigt wird, dann kann ich damit machen, was ich will. Ich kann den Code zum Beispiel scannen und per Mail oder anderweitig an eine Versandapotheke oder eine Offizin-Apotheke weiterleiten. Kein Datenschützer der Welt wird das verbieten können. Und der ULD will es auch nicht verbieten, denn der QR-Code-Ausdruck wird von den Datenschützern ja ausdrücklich akzeptiert (was ja letztlich auch nichts anderes als das Muster-16-Verfahren ist). Der Arzt aber soll selbst dann nicht den QR-Code mailen dürfen, wenn das transportverschlüsselt geschieht, ich als Patient ihn ausdrücklich darum bitte und alle Haftung auf mich nehme? Und gleichzeitig kann Arzt weiter Muster-16-Formulare faxen, so viel er will?
Die Alternative wäre, kurz gesagt, den Ball flach zu halten und anzuerkennen, dass es sich um ein Übergangsstadium handelt, in dem für einen begrenzten Zeitraum auf freiwilliger Basis ein datenschutzseitig nicht idealer Weg genutzt wird – im Bewusstsein, dass dieser irgendwann abgeschaltet werden wird. Dass die Datenschützer auf das Problem hinweisen, ist legitim, ist ihre Pflicht. Neu ist die Sache nicht: Die gematik betonte auf DocCheck-Nachfrage, dass sie in der Vergangenheit bereits darauf hingewiesen habe, dass diesbezüglich Regulierungsbedarf bestehe.
Die Frage ist, ob eine KV daraus dann gleich den großen Elefanten machen muss. Die KVSH hätte ihre Ärzte darüber informieren können, dass es beim E-Mail-/SMS-Versand der E-Rezept-QR-Codes unter sehr ungünstigen Umständen auch mit ausdrücklicher Patienteneinwilligung zu Haftungsproblemen kommen kann, ehrlicherweise um den Hinweis ergänzt, dass das auch für die Faxübertragung von Muster-16-Formularen gilt. Die KVSH hätte auch darauf hinweisen können, dass die Bypass-Szenarien ggf. durch Faxübertragung des QR-Code-Rezepts umgesetzt werden können. Was natürlich nicht im Sinne des Erfinders ist, womit sich aber gegenüber dem Muster-16-Verfahren rein gar nichts ändern und sich der eine oder andere Arzt vielleicht besser fühlen würde.
Nichts davon machte die KVSH. Sie entschied sich für den großen Knall. Dass der nicht zwangsläufig ist, zeigt das Beispiel der anderen Testregion-KV, der KV Westfalen-Lippe, die ausdrücklich betont, am Beginn des Rollouts festzuhalten. Interessanterweise hat sich auch die Kassenzahnärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein der KVSH-Positionierung bisher nicht angeschlossen. Dem ULD scheint die Dynamik, die das „Einschätzung“-Schreiben an die KVSH ausgelöst hat, selbst nicht ganz geheuer zu sein. Zumindest wurde am Tag nachdem die KVSH ihren E-Rezept-Auszug mit Pauken und Trompeten verkündet hatte, eine erläuternde Webseite mit Fragen und Antworten freigeschaltet, die klarstellt, dass sich der ULD eben NICHT gegen das E-Rezept per se wende.
Nun ist die KVSH eine Interessenvertretung. Das E-Rezept ist bei vielen Ärzten nicht gern gesehen, weil es als Teil der unbeliebten und teuren TI wahrgenommen wird. Es stehen KBV-Vorstandswahlen an, mit allem Profilierungsbrimborium drumherum. All dies fließt ein und es hat im Zweifel genauso viel Gewicht wie eine Datenschützer-Einschätzung – eher mehr. Auch in der Software-Industrie gibt es durchaus einige, die jetzt feixen. Denn die E-Rezept-App, die das Problem lösen könnte, wird dort als staatliche Zwangsmaßnahme wahrgenommen.
Auch die Politik muss sich Fragen gefallen lassen. Dass die E-Rezept-App in der Testphase bisher keinerlei Rolle spielte, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass niemand sie kennt, sprich mit fehlender Kommunikation. Dass die an sich nutzerfreundliche Identifizierung der Patienten an ihrer E-Rezept-App via elektronische Patientenakte (ePA) keine Rolle spielt, liegt unter anderem an den Krankenkassen, die die ePA bisher praktisch gar nicht bewerben. Dass die Politik bei der ePA jetzt außerdem noch das an sich nutzerfreundliche VideoIdent-Verfahren gekippt hat, hilft auch nicht gerade weiter.
Gleichzeitig waren Politik und gematik insgesamt wohl einfach etwas naiv, sonst wäre der an sich naheliegende eGK-Weg des E-Rezepts, der so oder ähnlich etwa in Frankreich und Portugal genutzt wird, schon viel früher spezifiziert worden. Am Ende bleibt ein schaler Geschmack im Mund, verbunden mit der Hoffnung, dass sich alle Beteiligten jetzt zusammenreißen. Deutschland ist in Sachen E-Rezept zuletzt deutlich vorangekommen. So groß wie zu Schmidts und Röslers Zeiten ist der Schritt nicht mehr. Und ein Papierrezept, das mehr als ein Notnagel ist, ist im Jahr 2022 wirklich nicht mehr vermittelbar.
Bildquelle: Liam Arning, Unsplash