Der A-Subtyp der Hämophilie erfordert eine lebenslange Therapie mittels häufiger Injektionen – und bleibender Beeinträchtigung der Lebensqualität. Eine neue Gentherapie macht Betroffenen Hoffnung.
Die Hämophilie A (HA) ist eine seltene X-chromosomale genetische Erkrankung, von der meist männliche Patienten betroffen sind. In der EU leiden 7 von 1.000 Menschen daran. Die Behandlung besteht bisher in der Substitution des fehlenden Gerinnungsfaktors VIII, was lebenslange Injektionen erforderlich macht. Mit Valoctocogene-Roxaparvovec (Roctavian®) ist nun die erste Gentherapie zur Behandlung der Hämophilie verfügbar.
Hämophilie A ist eine rezessive Blutungsstörung und wird durch Mutationen im Gen verursacht, das den Blutgerinnungsfaktor VIII (FVIII), einen wesentlichen Kofaktor im Gerinnungsweg, kodiert. Hämophilie manifestiert sich mit anhaltenden und übermäßigen Blutungen, entweder spontan oder nach einem unbedeutenden Trauma. Hämophilie umfasst eine Gruppe von Erbkrankheiten, die die normale Blutgerinnung des Körpers verändern.
Eine Hämophilie wird je nach defektem Faktor in die
Das Merkmal von Hämophilie A manifestiert sich als angeborenes Fehlen oder Abnahme des Plasmagerinnungsfaktors VIII – einem gerinnungsfördernden Cofaktor und Initiator von Thrombin, der für die Erzeugung ausreichender Fibrinmengen zur Bildung eines Blutplättchen-Fibrinpfropfens verantwortlich ist. Trägerinnen des weiblichen HA-Gens geben das Gen an 50 % ihrer männlichen Nachkommen weiter, die die Erkrankung erben. Trägerinnen des weiblichen Hämophilie-Gens zeigen selbst keine Symptome von Hämophilie A, können aber niedrigere Mengen an Faktor VIII als üblich aufweisen. Männliche HA-Patienten übertragen Hämophilie nicht auf männliche Nachkommen, aber ihre weiblichen Nachkommen tragen das Hämophilie-Gen.
Wird das vaskuläre Endothel verletzt, initiiert der hämostatische Prozess die Gerinnungskaskade, um die vaskuläre Integrität wiederherzustellen und weitere Blutungen zu verhindern. Die Thrombozytenaktivierung erfolgt an der Stelle des Gefäßrisses, was die Verbreitung von Gerinnungsfaktoren und die Fibrinbildung einleitet, was zu einem Thrombozyten-Fibrin-Pfropfen führt. Faktor VIII sorgt für eine wesentliche Verstärkung der Thrombinerzeugung und die Verbreitung der Fibrinbildung, um weitere Blutungen zu hemmen. Faktor VIII haftet am Von-Willebrand-Faktor, um ihn vor proteolytischem Abbau zu schützen.
Die Blutungen bei Hämophilie resultieren aus einer fehlerhaften Fibrinstabilisierung als Folge einer unzureichenden Fibrinbildung, was zu einem Versagen der sekundären Hämostase führt. Zu wenig Thrombin in der Gerinnungskaskade führt zu einem Mangel an Fibrin.
Eine schwere Hämophilie manifestiert sich häufig in den ersten Lebensmonaten, während eine leichte oder mittelschwere Hämophilie später in der Kindheit oder Jugend oft zufällig oder nach einem Trauma auftritt. In zwei Drittel der Fälle erfolgt die Bestätigung der Hämophilie-Diagnose kurz nach der Geburt eines betroffenen Sohnes bei einer Mutter, die das anfällige Gen trägt.
Gegenwärtig besteht die Behandlung von HA aus einer FVIII-Ersatztherapie oder neuartigen Therapien – entweder prophylaktisch oder bei Bedarf. Trotz Verfügbarkeit dieser Optionen leiden Patienten mit der Erkrankung weiterhin an Durchbruchblutungen und fortschreitenden, schwächenden Gelenkerkrankungen.
Es lassen sich die folgenden Gruppen im aktuellen Therapieansatz unterscheiden:
Die Einführung der Therapie mit Gerinnungsfaktoren in den 1960er und 1970er Jahren hat die Lebenserwartung für schwere Hämophilie von unter 30 Jahren auf eine nahezu normale Lebenserwartung erhöht. Die Kontamination durch HIV- und Hepatitis-Viren von Gerinnungsfaktorkonzentraten, die aus gepooltem Plasma hergestellt wurden, gefährdete jedoch viele Patienten. Die Sicherheit verbesserte sich mit der Einführung wirksamer Virusinaktivierungsmaßnahmen, gefolgt von rekombinanter DNA-Technologie in den 1980er Jahren.
Aktuell stehen in Deutschland vier rekombinante FVIII-Produkte mit verlängerter Halbwertszeit (EHL-rFVIII-Produkte) zur Behandlung und Prophylaxe von Blutungen bei Patienten mit Hämophilie A zur Verfügung:
Um die Halbwertszeit zu verlängern und damit eine verlängerte Wirkung der Gerinnungsfaktoren zu erzielen, werden verschiedene galenische Technologien angewandt. Möglich ist die Fusion mit einem anderen rekombinanten Protein und die PEGylierung, die Bindung von Polyethylenglykol (PEG) an den Gerinnungsfaktor.
Verfügbare Behandlungen erfordern eine oder mehrere Injektionen pro Woche oder Monat und das lebenslang. Trotzdem führt die Hämophilie weiterhin zu zahlreichen Komplikationen, darunter Gelenkschäden, Funktionsstörungen, akute und chronische Schmerzen, psychische Gesundheits-/Angstprobleme, und reduzierte Lebensqualität.
Eine Gentherapie bezieht sich auf die Behandlung einer Krankheit durch das Einführen einer funktionsfähigen Kopie eines krankheitsverursachenden Gens, die Inaktivierung der Wirkung des Gens durch Hinzufügen neuer oder modifizierter Gene oder das Editieren eines Wirtsgens zur Korrektur einer angeborenen Mutation.
Der gebräuchlichste Weg, therapeutische Gene einzuschleusen, ist über einen viralen Vektor. Im Gegensatz zu früheren Ansätzen mit adenoviralen und retroviralen Vektoren, die das Transgen in das Genom des Wirts einfügen, verbleiben rekombinante adeno‐assoziierte Virus‐Vektoren im Allgemeinen im Zellkern der transduzierten Zelle. Fünf Jahre nach der ersten erfolgreichen kontinuierlichen Expression des Gerinnungsfaktors nach Gentransfer und nach zwei Jahrzehnten in der klinischen Erprobung ist die Gentherapie bereit, eine therapeutische Alternative zum Gerinnungsfaktorkonzentrat für Hämophilie-Patienten zu werden.
Die Gentherapie bietet den Vorteil kontinuierlicher und messbarer Steady-State-Spiegel von FVIII, die die bei derzeit verfügbaren Therapien beobachteten Blutspiegelschwankungen aufheben. Die bedeutendste Komplikation, die als Reaktion auf eine Faktorersatztherapie auftritt, ist die potenzielle Entwicklung einer neutralisierenden Antikörperreaktion gegen FVIII. Dies tritt bei etwa einem Drittel der Hämophilie-A-Patienten nach Exposition gegenüber FVIII-Ersatzprodukten auf, normalerweise innerhalb der ersten 75 Expositionstage.
Die Entwicklung von adeno-assoziierten Viren (AAV) als Vektoren für die Verabreichung von Gentherapien hat einen signifikanten klinischen Erfolg bei der Behandlung unter anderem von angeborenen monogenen Erkrankungen, einschließlich Hämophilie A, Hämophilie B, Duchenne-Muskeldystrophie, spinaler Muskelatrophie und angeborene Amaurose.
Roctavian® ist ein adeno-assoziierter Virus Serotyp 5-basierter Gentherapievektor (AAV5), der ein Gen für den humanen Blutgerinnungsfaktor VIII mit deletierter B-Domäne enthält, das von einem leberselektiven Promotor kontrolliert wird. Nach der Verabreichung muss der Vektor eine Reihe von Schritten der Genomverarbeitung, des Zusammenbaus und der Reparatur durchlaufen, um kreisförmige Episome in voller Länge zu bilden, die eine langfristige FVIII-Expression in Zielgeweben vermitteln.
In einer Phase-II-Studie wurde die Nachhaltigkeit einer Gentherapie untersucht. Die hämostatische Wirksamkeit blieb in diesen beiden Dosisgruppen über 4 und 5 Jahre weitgehend erhalten und das Sicherheitsprofil war akzeptabel. Die durchschnittliche Lebensqualität der Teilnehmer wurde gegenüber dem Ausgangswert verbessert oder beibehalten. Die Gentherapie könnte einen Paradigmenwechsel in der Behandlung von Hämophilie A sein, indem sie eine lang anhaltende Behandlung ermöglicht und die klinischen und patientenorientierten Ergebnisse, einschließlich der Lebensqualität, verbessert, so die Autoren.
Ozelo et al. führten eine unverblindete, multizentrische Einzelgruppen-Phase-III-Studie durch (wir berichteten), um die Wirksamkeit und Sicherheit von Valoctocogen-Roxaparvovec bei 134 Männern mit schwerer Hämophilie A zu bewerten. Der primäre Endpunkt war die Veränderung der Faktor-VIII-Aktivität gegenüber dem Ausgangswert in den Wochen 49 bis 52 nach der Infusion. Zu den sekundären Endpunkten gehörten die Änderung der jährlichen Anwendung von Faktor-VIII-Konzentrat und Blutungsraten.
Bei Patienten mit schwerer Hämophilie A führte die Behandlung zu einer endogenen Faktor-VIII-Produktion und zu einer signifikant geringeren Blutung und einer signifikant geringeren Verwendung von Faktor-VIII-Konzentrat im Vergleich zur Faktor-VIII-Prophylaxe. Die Blutungsraten wurden um 84 % reduziert. Die prospektiv erhobenen 4,8 Blutungsepisoden pro Jahr wurden auf 0,8 Episoden pro Jahr reduziert. 80 % der Teilnehmer waren ab der fünften Woche nach der Behandlung blutungsfrei. Darüber hinaus konnte Roctavian® die Notwendigkeit von FVIII-Infusionen nahezu eliminieren, indem die Rate um 99 % von durchschnittlich 135,9 Infusionen pro Jahr auf 2 pro Jahr gesenkt wurde. Zu den häufigsten Nebenwirkungen gehörte eine Erhöhung der Alanin-Aminotransferase, die bei 86 % der Patienten auftrat. Kopfschmerzen, Übelkeit, Erhöhung der Aspartat-Aminotransferase, Arthralgie und Müdigkeit traten in 38 % oder weniger auf.
Eine vektorvermittelte Gentherapie bei Hämophilie B hat gezeigt, dass es möglich ist, Patienten mit schwerer Erkrankung in einen „milden“ Phänotyp umzuwandeln. In einer Follow-up-Studie wurde der Langzeiteffekt der Gentherapie überprüft. Diese Daten zeigen eine mehrjährige Faktor-VIII-Expression und eine wirksame Blutungskontrolle bei 13 Männern mit schwerer Hämophilie A. Innerhalb des letzten Jahres der Nachbeobachtung hatten die Teilnehmer Faktor-VIII-Spiegel im nicht-hämophilen Bereich (1 Teilnehmer), im milden hämophilen Bereich (11 Teilnehmer) und im moderaten hämophilen Bereich (1 Teilnehmer).
Das Sicherheitsprofil von AAV-Vektoren spiegelt die Tatsache wider, dass sie mit natürlich vorkommenden AAV verwandt sind, die im Allgemeinen beim Menschen nicht pathogen sind. Wie bereits diskutiert, integriert sich rekombinantes AAV nur selten in die Wirts-DNA, wodurch das Potenzial für Genotoxizität minimiert wird.
Zwei Millionen kostet eine Injektion mit Valoctocogen-Roxaparvovec – damit ist das Pharmakon eines der teuersten Medikamente der Welt. Eine niederländische Studie untersuchte die Kosteneffizienz der Gentherapie im Vergleich zur FVIII-Therapie und zur Therapie mit Emicizumab. Der Preis der Gentherapie wurde auf 2,65 Millionen Euro pro Behandlung im Vergleich zu FVIII und 3,5 Millionen Euro pro Behandlung im Vergleich zu Emicizumab geschätzt.
Die Zeit, in der sich die Kosten amortisiert haben, betrug 8,03 Jahre im Vergleich zu FVIII und 5,68 Jahre zu Emicizumab. „Valoctocogene-Roxaparvovec erwies sich als kostensparend – im Durchschnitt um etwa 6,8 Millionen US-Dollar pro Patient – und wirksamer als eine prophylaktische Therapie zur Behandlung von Hämophilie A“, so das Resümee von Cook et al. in einer Studie.
Der Hersteller selbst ist der Ansicht, dass diese erste Gentherapie den Gesundheitssystemen im Laufe des Lebens eines typischen Patienten Einsparungen von mehr als 20 Millionen US-Dollar einsparen könnte. Allerdings wird man über das eigene Medikament wohl kaum negativ berichten. Das IQWiG entwickelt derzeit ein Modell zur Kosten-Nutzenanalyse. Man kann argumentieren, dass den Mehrkosten im Jahr der Gabe bei einer reinen Ausgabenbetrachtung Einsparungen in Folgejahren gegenüberstehen, in denen keine Therapie mehr erforderlich ist. Auch das IGES-Institut in Berlin untersucht sehr umfangreich die Kosteneffizienz einer einmaligen Gentherapie im Vergleich zu einer meist lebenslangen konventionellen Therapie.
Das Medikament wird erst seit fünf Jahren in Studien getestet. Bei aller Kostenkalkulation bleibt zu bedenken: Nach wie vor ist unklar, ob der Erfolg auch lebenslang anhält.
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