Habe ich bei Patienten den Verdacht auf eine Anorexie oder Bulimie, spreche ich das direkt an – egal, wie alt sie sind. Auch wenn ich spüre, dass die Familie das nicht hören möchte. Warum es sich lohnt, in die Offensive zu gehen.
Im ersten Teil hatte ich bereits Warnhinweise illustriert, die eine Essstörung nahelegen. Der erste Schritt zur Therapie muss zunächst das Erkennen derselben sein und das ist nicht einfach. Eine Essstörung kann eine Obsession bedeuten. Eine Last, die es zu verbergen gilt, weil die Patienten gesellschaftlich nicht akzeptiert sind. Ein Fakt, der leider auf viele psychischen Erkrankungen zutrifft.
Betroffene schämen sich ihrer Erkenntnis, verstecken die Symptome. Leider sind Täuschungsmanöver sehr häufig, vor allem bei Jugendlichen. Erklärungsangebote („ich achte auf meine Figur“, „ich möchte sportlicher werden“, „das schmeckt mir eben nicht“, „ich esse aus Lust und Laune“) verschleiern die Symptome sehr lange. In Familien beginnen Verdrängungsmechanismen zu werkeln, Eltern schließen sich den Erklärungen der erkrankten Jugendlichen an. Teils entstehen so ungewollte Triggerkräfte.
Der Gedanke an eine Essstörung sollte genügen, um eine mögliche Abklärung in die Wege zu leiten. Manchmal reicht es, die Betroffenen anzusprechen; manchmal kann eine organmedizinische Untersuchung ein Einstieg sein. In der Praxis sehen wir oft Jugendliche, die zunächst für ein Blutbild vorgestellt werden, weil „sie „in letzter Zeit so müde“ seien oder für ein EKG, weil es zu Kreislaufproblemen kam.
Über die ersten Symptome habe ich im ersten Teil schon gesprochen. Der häufigste Grund eines kinder- und jugendärztlichen Konsils bleibt aber noch immer die endlich erkannte Gewichtsabnahme.
Ganz wichtig: Eine Essstörung lässt sich nicht selbst therapieren. Dies mag anekdotisch so möglich sein (dann ist aber die Diagnose schon zweifelhaft), aber es macht immer Sinn, professionelle Hilfe von außen heranzuziehen. Erste Anlaufstellen können Ärzte sein, je nach Akuität sogar Notfallambulanzen. Viele Patienten, vor allem, wenn sie ihrer Kernfamilie entwachsen sind, wenden sich an Beratungsstellen von Betroffenen (Selbsterfahrungsgruppe) oder an psychologische/psychiatrische Einrichtungen. Auch gut geschulte Seelsorger oder Erzieher können Hilfestellung bieten, zumindest, um das Krankheitsbild zu erkennen und an medizinische Stellen weiterzuvermitteln. Noch niedrigschwelliger sind Beratungstelefone.
In der Praxis werden wir erst einmal ganz sachlich eine organische Abklärung veranlassen, denn wir müssen uns ein Bild machen, wie weit vorangeschritten eine Essstörung bereits ist. Das heißt, wie akut das Geschehen ist und ob eine unmittelbare Bedrohung für die Patienten vorliegt oder ob Zeit ist. Neben einer körperlichen Untersuchung – einschließlich Körpermaße, Blutdruck und Puls – und einer Blutuntersuchung wird ein ausführliches Anamnesegespräch stattfinden, indem das Essverhalten, Gewichtsmessungen, aber auch belastende Dinge herausgearbeitet werden.
Ich bin da sehr offensiv: Ergibt sich bereits im ersten Gespräch der Verdacht auf eine Anorexie oder Bulimie, spreche ich das direkt an – egal, wie alt die Jugendlichen sind, egal, wie sehr ich spüre, dass in der Familie ein Verdrängungsmuster abläuft. Eine Verdachtsdiagnose kann ein Augenöffner sein oder Bewegung in gelernte Verhaltensmuster bringen. Manche Familien sind geschockt, Fehldiagnosen sind leider meist selten. Aber noch nie waren Eltern verärgert, wenn wir das Thema offen besprochen haben.
Oftmals ist meine Arbeit da schon beendet, denn eine psychotherapeutische Betreuung kann ich nicht anbieten, sondern nur vermitteln. Meistens fahren die Familien auf zwei Schienen: Ich kümmere mich um die organische Betreuung, das heißt, der Patient kommt alle drei bis vier Wochen in die Praxis, um das Gewicht festzuhalten oder mal wieder Blutwerte zu bestimmen. Dies ist insofern wichtig, weil wir die häusliche Fixierung auf den Gewichtsverlauf unterbrechen wollen (eine der ersten aktiven Maßnahmen ist übrigens, die Standwaage im familiären Umfeld zu entsorgen) – die Betroffenen aber die Kontrolle behalten möchten, dass das Gewicht nicht völlig aus dem Ruder läuft. Zumeist wird mit den Psychotherapeuten vereinbart, dass das Gewicht nicht mitgeteilt wird.
Dies ist die zweite Schiene: Die psychologisch-psychotherapeutische Betreuung. Sie kann in Einzelsitzungen stattfinden oder als Gruppentherapie, sie kann verhaltenstherapeutisch, systemisch oder tiefenpsychologisch orientiert sein, letztendlich ist das egal. Passen muss – wie immer in einem psychotherapeutischen Setting – die Chemie zwischen Therapeuten und Patienten. Leider gibt es auch hier viel zu wenig Anlaufmöglichkeiten, die Therapieplätze sind begrenzt und seit Corona überlaufen wie nie zuvor. Probesitzungen sind etwas Feines, aber wenn in strukturschwachen Gegenden wenig Auswahl bleibt, klappt es auch nicht immer mit der Chemie.
Mitunter reichen diese Therapieansätze schon aus: Organische Beobachtung und psychologische Führung im ambulanten Setting. Da eine Essstörung oft durch die unmittelbare Umgebung geprägt ist – und das ist nun meist die Familie –, sollte auch diese in die Therapie einbezogen werden. Ein systemischer Ansatz der Psychotherapie macht somit Sinn. Eltern, vor allem jüngerer Jugendlicher, werden durch Schulungen, umfassende Informationen und Austausch mit anderen Eltern in die Therapie eingeschlossen.
Manchmal sind aber die Strukturen zuhause bereits so manipulativ oder verhärtet, dass eine Bewegung nur durch eine Herausnahme des Erkrankten aus der Familie zum Ziel führt. Hier bieten sich Wohngruppen an, die Jugendlichen leben hier ganztags, eventuell auch im semi-ambulanten Setting, in Zweier- oder Dreier-WGs unterstützen sich die Patienten untereinander. Über mehrere Wochen – ähnlich einem Kuraufenthalt bei anderen chronischen Erkrankungen – erlernen sie einen strukturierten Tagesablauf, gemeinsames Kochen und Essen, offenen Umgang mit der Erkrankung und Aufarbeitung der eigenen Krankengeschichte in Einzel- und Gruppengespräche. Dies kann eine sehr anstrengende Zeit für den Betroffenen und die Familie sein. Vor allem die Wiedereingewöhnung in das häusliche Umfeld gestaltet sich manchmal schwierig.
Eine Essstörung ist ein langer, manchmal lebenslanger Struggle, auch nach den ersten Interventionen im Ambulanten oder in einer Einrichtung. Gerade nach dem Verlassen des Elternhauses brauchen die Patienten weiter Betreuung. Und das gelingt sehr gut: Schul- oder Ausbildungsabschluss, der Auszug zuhause, erste Schritte auf einem eigenen Weg ohne Beobachtung durch Eltern oder enge Angehörige bedeuten eine große Herausforderung für die eigene Tagesfindung.
Die Patienten erlegen sich eine strenge Essenssystematik mit fixen Essenszeiten auf, mit vorher definierten Mindest- aber auch Höchstmengen des Essens, begleitet durch wöchentliche oder zweiwöchentliche Psychotherapiebegleitung, um die erlernten Strukturen zu motivieren und nachzuschärfen. Liegen Koerkrankungen wie Depressionen oder Konzentrationsstörungen vor, werden eventuell Medikamente eingenommen, die wiederum Einfluss auf das Essverhalten haben können. Eine psychiatrische Begleitung ist in diesen Fällen unumgänglich.
Mit einer guten Tagesstruktur mit festen Essenzeiten, vielleicht vorgegeben durch andere Umstände wie Studium, Ausbildung oder mit einer generellen Veränderung der Lebensbedingungen, kann es gelingen, den Dämon der Essstörung in den Hintergrund zu drängen. Vielleicht werden auch andere Dinge wichtiger, wie eine feste Beziehung zu einem lieben Menschen oder ein berufliches oder soziales Ziel.
Kommt es jedoch zu einem Funken des Rückfalls in alte Muster, muss sich zeigen, wie viel Resilienz gegen die Erkrankung in den psychotherapeutischen Sitzungen erlernt wurde, um nicht wieder in alte Verhaltensmuster zurückzufallen. Ausrutscher sind in Ordnung, so lange sie nicht zu einem Absturz werden.
Informationen dazu, wie man erste Anzeichen für eine Essstörung erkennen kann, findet ihr auch hier. Eine Liste an Anlaufstellen für Betroffene oder Angehörige gibt es hier.
Bildquelle: Benjamin Davies, Unsplash