Im Sommer 2020 stellten Behinderte und schwerst erkrankte Menschen einen Eilantrag an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wegen möglicher Triage, überlaufender Intensivstationen, zu wenigen Beatmungsplätzen. Die Beschwerdeführer befürchteten bei Not-Triage und COVID-19-Intensiv-(ICU)Therapiepflichtigkeit für sich und andere Versorgungs-Engpässe bzw. substanzielle, institutionelle und ideelle Benachteiligungen. Der Begriff Triage stammt aus der Militär-/Katastrophenmedizin und beinhaltet einen abgestuften, interventionellen Maßnahmen-Katalog nach Dringlichkeit und Therapie-Erfolgsaussichten. Die Antragssteller unterstellen damit immanent lückenhafte Behandlungen und Nachteile zu Lasten von Behinderten Menschen: Dies widerspricht jedoch als unärztliches Verhalten dem Genfer Arztgelöbnis.
Das BVerfG war bei seiner Entscheidungsfindung überfordert: Juristisch medizin- und versorgungs-bildungsfern, ohne spezifische Kenntnisse und Erfahrungenintensivmedizinischer Hintergründe undVorgehensweisen. Das Gericht kannte nicht mal das übliche "Mehr-als-4-Augenprinzip" und Entscheidungshorizonte auf ICUs.
Motivations- und Gestaltungslagen von Personal und PatientInnen auf ICUs bei Behinderten Menschen wurden vom BVerfG m.E. zu hemdsärmlig vorwissenschaflich-empirisch nur vermutet und hochgeschätzt bzw. juristisch nicht verifiziert oder falsifiziert. Denn niemand dürfte und sollte bei schwerster Behinderung und Triage unangemessen benachteiligt oder extra bevorzugt werden. Das Dilemma „Kriterium der klinischen Erfolgsaussichten“ (DIVI) konterkariert das BVerfG mit der bloßen Vermutung, eine Behinderung werde pauschal mit schlechteren Genesungsaussichten assoziiert. Und als medizinisch unhaltbare Steigerung und Verleugnung ganzheitlicher Medizin: Überlebenswahrscheinlichkeit als Triage-Kriterium sei „eindeutig nur auf die aktuelle Krankheit“ zu beziehen. Das verleugnet eine u.U. stark eingeschränkte Gesamt-Ausgangssituation.
Das BVerfG konfabuliert, die DIVI-Empfehlung könne „zum Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden“, denn zugleich sei eine Priorisierung aufgrund von Grunderkrankungen/Behinderungen nicht zulässig. Besonders fragwürdig ist die Behauptung, Lebenssituation von Menschen mit Behinderung hätten „unbewusste Stereotypisierung“ zur Folge.
Nach dem Triage-Urteil des Bundesverfassungsgerichts drängen Sozialverbände auf eine Ausdehnung der geplanten Schutzregelungen auf ältere Menschen. Die bewundernswert kluge, überzeugende Präsidentin Verena Bentele des Sozialverbands Deutschland (VdK) sagte, das Urteil zwinge das Thema Triage gesellschaftlich breit und intensiv zu diskutieren, um eine Entscheidungsgrundlage für Ärzte zu schaffen. Viele Menschen, besonders mit Behinderungen und chronischen Krankheiten, seien in der Pandemie ob der knappen intensivmedizizinischen Ressourcen verunsichert.
Die Richter des Ersten Senats des BVerfG hatten am 28.12.2021 entschieden, dass der Gesetzgeber Sorge dafür tragen müsse, dass Menschen mit Behinderung bei der Verteilung pandemiebedingt knapper intensivmedizinischer Behandlungsressourcen nicht benachteiligt werden dürfen. Bundesjustizminister Marco Buschmann hatte daraufhin erklärt, die Ampel-Koalition wolle bald einen Gesetzesvorschlag auf den Tisch legen.