In den Bauch getreten, angespuckt, gebissen: Das ist für viele Ärzte und Pfleger trauriger Alltag. Wir haben nach euren Erfahrungen mit Gewalt gefragt – und ihr hattet viel zu erzählen.
Wir haben letzte Woche gefragt, wie oft ihr im Berufsalltag verbal oder körperlich angegriffen werdet – und waren erstaunt, wie viele von euch geantwortet haben. Das Thema scheint aktueller denn je. Wir können hier leider nicht alle Erfahrungsberichte teilen, dazu waren es einfach zu viele. Aber wir wollen im Folgenden möglichst jeder Facette eurer Antworten Platz geben. Eines klang bei fast allen durch: Viele von euch fühlen sich alleingelassen und wünschen sich, dass das Thema in der Öffentlichkeit, aber auch am Arbeitsplatz selbst offener angegangen würde. Wir hoffen, mit diesem Artikel einen Beitrag dafür zu leisten.
Insgesamt haben zum Zeitpunkt der Auswertung 178 Personen an unserer (nicht repräsentativen) Umfrage teilgenommen; 66 Prozent davon waren Frauen und 34 Prozent Männer. Die Altersverteilung sieht so aus:
Drei Viertel der Befragten arbeiten im Krankenhaus, einer Praxis oder einer Klinik, 19 Prozent fahren im Rettungswagen zu Einsätzen raus. In einer Apotheke arbeiten 3 Prozent der Befragten. Außerdem nicht verwunderlich: Die größte Gruppe der Personen, die an der Umfrage teilnahmen, setzt sich aus Pflegern, ZFA, MFA und TFA zusammen (43 Prozent). Sie scheinen überdurchschnittlich oft mit Gewalt und Aggression am Arbeitsplatz konfrontiert zu sein.
Neben beinah täglichen verbalen Angriffen und Beleidigungen spielen auch körperliche Angriffe eine Rolle im Arbeitsalltag von Personen im Gesundheitssystem. Das gehe vor allem von intoxikierten Patienten oder solchen, die gerade aus einer Vollnarkose aufwachen bzw. sich im Delir befinden, aus. Vom Tritt in den Bauch, anspucken, kratzen, boxen, würgen oder beißen – alles war in den Antworten vertreten, mehr als einmal. Auch wird häufiger mit Gegenständen nach dem Personal geworfen; von Urinbeuteln bis zu Monitoren waren einige Wurfgeschosse dabei.
Verbal kommen vor allem Drohungen, aber auch sexuelle Belästigung vor. So schreibt eine Krankenschwester von Grapschern an die Brust und in den Schritt, oder davon, dass Patienten in ihrer Gegenwart anfingen, zu masturbieren. Vielen Kolleginnen sei es ähnlich ergangen. Weil es sich aber oft um Patienten mit geistigen Behinderungen handelte, zweifelten Kollegen und Vorgesetzte ihre Berichte an. Sie schreibt: „Als ich mich erdreistete, solche Übergriffe schriftlich zu dokumentieren, war ich in einigen Situationen die Persona non grata.“ Das Schlimmste sei für sie jedoch gewesen, dass sie diese Patienten weiterhin pflegen musste.
Auch ein Notfallsanitäter schreibt: „Immer wieder werden wir verbal angegangen und auch teilweise körperlich angegriffen, weil wir Patienten z. B. sagen, dass Rückenschmerzen seit 2 Wochen am Sonntagabend kein Notfall sind und wir keine Notwendigkeit darin sehen, sie mitzunehmen. Bei meinen weiblichen Kollegen erlebe ich es immer wieder, dass ihnen auf den Hintern geschlagen wird oder sie auf ihr „Frausein“ reduziert werden und ihnen keine fachliche Kompetenz zugesprochen wird. Ich selbst komme seltener in solche Situationen, da ich aufgrund meines körperlichen Baus repekteinflößender bin. Verbale Beleidigungen und aggressives Verhalten kommen trotzdem vor.“
Pfleger oder Ärzte mit ausländischem Namen erfahren oft rassistische Diskriminierung. Ihnen wird die Kompetenz abgesprochen oder sie werden besonders respektlos behandelt. „Von einem Patienten wurde ich mal mit ‚Sieg Heil’ verabschiedet, eine ältere Dame reagierte mit ‚Oh Gott, ein Russe’ auf mich und verweigerte die Behandlung. Dabei bin ich weiß und spreche akzentfrei Deutsch. Seitdem ich mein Namensschild einfach nicht mehr trage, habe ich keinen solchen Vorfall mehr erlebt“, schreibt ein Sanitäter.
Nicht selten geht die Agression auch von den Angehörigen der Patienten aus. Eine Ärztin berichtet: „Es gab eine Familie, die die intensivpflichtige Erkrankung und das drohende Versterben des Patienten als unser Verschulden angesehen hat. Uns behandelnden Ärzten wurde mit dem Tod gedroht, wir sollten uns im Dunkeln nicht mehr allein auf die Straße trauen. Man hat das ganze Behandlungsteam regelmäßig angeschrien, beleidigt, versucht, mich zu bespucken.“
Eine junge Frau erzählt, dass ein wahnhafter Patient versuchte, sie als Geisel zu nehmen, um eine Forderung zu erzwingen. Einem Sanitäter wurde ein Messer an den Hals gelegt, als er einen Patienten umlagern wollte. Eine Krankenschwester schreibt, dass eine Kollegin von einem Patienten so verprügelt wurde, dass sie Rippenbrüche und eine Schulterprellung erlitt. Und selbst der vermeintliche Alltag ist oft eine physische Belastung, von der keiner hören will – eine Hebamme schreibt: „Täglich gehe ich mit blauen Flecken aus dem Dienst. Der Großteil tut dies als Selbstverständlichkeit ab, schließlich ist eine Geburt ein Ausnahmezustand.“
Die Pandemie scheint die Lage eher verschlimmert zu haben. Ein Notfallsanitäter schreibt: „Man ist ständig verbalen und teils körperlichen Angriffen ausgesetzt, da man wiederkehrend in bestimmten Milieus unterwegs ist. Durch die Corona-Pandemie ist eine neue Dimension dazugekommen, sei es absichtlich (wie ins Gesicht spucken), oder passiv durch Verweigerung von Abstand und Maske.“
Viele Angestellte vermissen den Rückhalt ihrer Vorgesetzten in solchen Situationen. Eine Ärztin dazu: „Narkoseaufklärungsgespräch, die Patientin hatte bereits auf dem Gang gepöbelt, Zeit mitzukommen hatte keiner. Einen männlichen Kollegen hatte die Patientin zuvor explizit abgelehnt. Im Gespräch war sie extrem provozierend und beleidigend mir gegenüber. Alle Versuche, sie zu beruhigen, scheiterten. Androhungen, mir ‚eine zu verpassen’ und ‚den Anwalt rufen, damit ich schneller arbeite’ inklusive. Ich war sehr froh, als das Gespräch vorbei war. Meiner Oberärztin war das Ganze leider ziemlich egal, auch dass ich mich sehr unwohl während des Gespräches gefühlt hatte. Inzwischen arbeite ich in einer patientenfernen Fachrichtung, das ist für die Psyche deutlich besser.“
Eine Pflegerin erzählt: „Eine Kollegin wurde erst verbal von einer Angehörigen angegriffen, dann eskalierte die Diskussion und die Dame ging auf meine Kollegin los. Sie ließ erst ab, als die Polizei kam. Besuchsverbot wurde verhängt, seitdem macht die Dame jeden Tag Telefonterror und droht uns. Ich habe wirklich Angst, dass sie eines Tages auf der Station steht. Im Nachtdienst alleine fühle ich mich sehr unwohl, auch unter dem Aspekt, dass unsere Notaufnahme immer offen ist und jeder rein kommt.“
„Ich durfte mir schon Drohungen anhören wie „an deiner Stelle würde ich nachts nicht mehr alleine rausgehen’ oder „ich finde dich und deine Familie’, schreibt eine junge Krankenschwester. Apotheker und PTAs kriegen nicht selten Probleme, wenn sie sich weigern, verschreibungspflichtige Medikamente ohne Rezept herauszugeben. Auch hier reagieren Kunden mit verbalen Attacken, körperlichen Angriffen oder Drohungen.
Einige von euch schreiben, dass verbale oder körperliche Angriffe teilweise mehrmals die Woche vorkämen. Das Pflegepersonal scheint hier besonders betroffen zu sein. Zeitdruck und Fachkräftemangel machen die Situation noch schlimmer, da viele Patienten aggressiv reagieren würden, wenn sie auf eine Behandlung oder ihr Essen länger warten müssten.
Was bei den Berichten vor allem durchklang: Oft eskalieren Situationen, in denen Patienten oder Angehörige überfordert sind. Sei es, weil sie Schmerzen haben, Eingriffe oder Behandlungen nicht verstehen, in fremder Umgebung oder nicht bei klarem Verstand sind. Das Personal hat dann weder die Zeit noch Kapazität, diese Überforderung aufzufangen und deeskalierend einzugreifen. Eine Hebamme schreibt: „Ein frischgebackener Vater drohte damit, uns ‚alle zu vergasen’, weil er nicht verstand, warum sein Neugeborenes einen Zugang am Kopf hatte für eine antibiotische Behandlung. Er wurde so aggressiv, dass der Sicherheitsdienst ihn nach draußen begleiten musste.“
Ein erfahrener Pfleger schreibt: „In 20 Berufsjahren sehe ich die ständige Zunahme [an Aggression] und wir sind fast immer machtlos. Schlussendlich sind wir dann angehalten, professionell zu reagieren und gezwungen, uns noch zu entschuldigen. In keiner anderen Branche geht man so mit Menschen um, auf die man angewiesen ist.“
Zu guter Letzt haben wir euch nach euren Lösungsvorschlägen gefragt. Viele würden sich Trainings wünschen, um besser mit körperlicher und verbaler Aggression klarzukommen – von Selbstverteidigung über Deeskalationstraining bin hin zu psychologischer Betreuung. Eine junge Pflegekraft fasst es gut zusammen: „Schulungen für das Personal ausweiten. Verbale Attacken nicht persönlich nehmen, erkennen, warum der Patient ausfallend wird. Den psychologischen Dienst öfter in Anspruch nehmen (benötigt mehr Personal). Die ambulante Versorgung verbessern, um Überforderung von Angehörigen zu verhindern.“
Viele wünschen sich außerdem, dass derartiges Verhalten überhaupt Konsequenzen nach sich ziehen würde. Seien es Anzeigen oder ausgesprochene Hausverbote; das Ganze könnte durch ein zentrales Meldesystem erfasst werden. Auch schreiben einige, dass sie sich mit einem Sicherheitsdienst deutlich wohler fühlen würden. Grundsätzlich fühlen sich viele von der Gesellschaft und ihrem Arbeitgeber im Stich gelassen und fordern mehr Aufklärung und Rückhalt.
Eine Sanitäterin schreibt: „Viele gesellschaftliche Probleme spiegeln sich dort [in Praxen und Kliniken] wieder. Ohne gesellschaftlichen Wandel kann es auch keinen nachhaltigen Wandel im Arbeitsleben geben. Dennoch würde es helfen, klare Handlungsempfehlungen zu kennen, um in Konflikten sicherer handeln zu können.“ Eine Pflegerin rät dazu, das Thema direkt bei Berufseinsteigern in die Einarbeitung zu integrieren und sie auf die in der Klinik üblichen Abläufe hinzuweisen, um Unsicherheiten zu vermeiden.
Wertschätzung war auch eine wichtige Komponente. Zum Beispiel seitens der Bevölkerung, wie eine Frau mit langjähriger Erfahrung schreibt: „Unser Berufsstand braucht dringend eine Aufwertung in der Gesellschaft! Wir sind viel mehr als ‚Hinternabwischer’ und Hilfskräfte.“ Aber auch wertschätzender Umgang mit den Kollegen kann helfen. „ Wir brauchen eine bessere Umgangskultur unter Kollegen, damit man sich, ohne belächelt oder nicht ernst genommen zu werden, als Betroffener austauschen kann. An der Mentalität der Leute lässt sich vermutlich wenig ändern, aber man braucht stärkere Strukturen durch Kollegen/Arbeitgeber, die einem nach solchen Ereignissen den Rücken stärken“, fordert ein Sanitäter.
Das Thema Gewalt und Aggression am Arbeitsplatz sollte besonders in der Medizin immer wieder thematisiert werden. Mögliche Lösungen wie Schulungen, bessere Kommunikation und Sicherheitsteams laufen in einem altbekannten Punkt zusammen – es braucht mehr Personal und mehr Geld. Leider heißt es auch hier: Es gibt noch viel zu tun.
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