TEIL 2 | Letztes Mal ging's um die Grundlagen zum Kunden-Liebling „Zitterezizin“, oder Cetirizin, wie wir sagen. Diesmal habe ich mehr zur Wirkung von Histamin für euch. Und zur Frage, was wichtiger ist: Nicht kotzen oder nicht einschlafen?
Um eine Wirkung zu erzielen, muss das Histamin an seine Rezeptoren binden und diese aktivieren. Die Wirkung des Histamins ist davon abhängig, an welchen der Histaminrezeptoren es bindet: H1, H2, H3 oder vielleicht doch an H4? Da Cetirizin als H1-Antihistaminikum nur an den H1-Rezeptor bindet und dieser Artikel ja eigentlich Cetirizin und nicht Histamin behandelt, auch wenn es noch nicht danach aussieht, werden wir uns nur diesen Rezeptor angucken.
Der H1-Rezeptor befindet sich zum Beispiel in den Nervenzellen, der glatten Muskulatur und in verschiedenen Zellen des Immunsystems, wie den Mastzellen, in denen es teilweise an Heparin gespeichert vorliegt.
Bindet das Histamin an die H1-Rezeptoren, werden diese stimuliert. Dadurch kommt es zu einer Vasodilatation der Arteriolen. Plötzlich ist mehr Platz, sodass auch mehr Blut durchfließen kann. Da das Blut aber nicht neu gebildet wird, sondern dann in den Arterien fehlt, wird durch diese folglich weniger Blut hindurchfließen und dadurch weniger Druck auf die Gefäßwände ausgeübt: Der Blutdruck sinkt.
Neben der Vasodilatation kommt es zu einer Schwellung des Gewebes, da durch das Histamin auch die Durchlässigkeit der Kapillaren erhöht wird, weshalb dann Plasmawasser, Plasmaproteine und zelluläre Blutbestandteile leichter aus diesen feinen Blutgefäßen in das Gewebe austreten können. Sowohl die Vasodilatation als auch die erhöhte Kapillardurchlässigkeit können zu einer Minderdurchblutung lebenswichtiger Organe führen, was im Extremfall einen anaphylaktischen Schock verursachen kann.
Akute Atemnot, Übelkeit und Erbrechen, Kreislaufbeschwerden, Sehstörungen, ein trockener Mund, ein brennendes Gefühl der Zunge, Hautreaktionen, Juckreiz und Quaddelbildung – alles Symptome eines anaphylaktischen Schocks. Die müssen natürlich nicht alle zusammen auftreten. In Folge eines anaphylaktischen Schocks kann der Puls abflachen und schneller werden, was dann zu einer Ohnmacht, aber auch zum Tod führen kann. Will man nicht erleben.
Weniger schlimm, aber extrem nervig ist durch Histamin ausgelöster Juckreiz der Haut. Der kommt deshalb zustande, weil das Histamin afferente Neuronen stimuliert. Histamin wirkt aber auch direkt im ZNS. Werden dort die H1-Rezeptoren aktiviert, kann das Erbrechen auslösen, aber auch die Aufmerksamkeit steigern und einen wach halten.
Nimmt man also ein ZNS-gängiges Antihistaminikum ein, kann das Histamin weniger binden, weshalb es auch weniger Erbrechen auslösen, die Aufmerksamkeit weniger steigern und einen weniger wach halten kann. Man könnte auch sagen, dass man müde wird. Sehr müde. Je nachdem, wie viel vom Antihistaminikum im ZNS ankommt.
Viele freiverkäufliche Schlafmittel und Tabletten gegen Übelkeit, wie die meisten Reisetabletten, sind ZNS-gängige Antihistaminika, bei denen man genau diese Effekte ausnutzt. Man nimmt also die Nebenwirkung eines Arzneimittels und macht sie zur Hauptwirkung.
Kauft jemand ein Antihistaminikum gegen Übelkeit bei mir, warne ich jedes Mal davor, dass es müde machen kann, weshalb man nicht Autofahren oder schwere Maschinen bedienen sollte. Das gilt nicht nur für Motorräder. Kauft jemand allerdings ein Antihistaminikum zum Einschlafen, warne ich nicht davor, dass es die Übelkeit vertreibt. Jedoch weise ich manchmal daraufhin, dass es auch bei einer Allergie wirkt, oder eingenommen werden kann, wenn einem übel ist.
Interessant sind auch die folgenden Wirkungen des Histamins. Histamin verursacht eine Kontraktion der glatten Muskulatur in den Bronchien. Dadurch wird der Atemwegswiderstand erhöht, was zur Folge hat, dass nicht mehr ausreichend Luft in die Lunge gelangt. Es kann ebenfalls zu einem Verkrampfen der Bronchialmuskulatur führen, was im schlimmsten Falle tödlich enden kann.
Histamin wirkt auch auf den Darm. Bauchschmerzen, Krämpfe, Durchfall und Blähungen könnten also vom Histamin ausgelöst worden sein. Wer sehr häufig darunter leidet, könnte mal ein Antihistaminikum – wie Cetirizin – in Betracht ziehen.
Histamin wird vor allem über das Enzym Diaminoxidase (DAO) abgebaut. Liegt ein Mangel an diesem Enzym vor, kann weniger des im Körper gebildeten sowie des durch Nahrung zugeführten Histamins abgebaut werden, was zu einer Histaminintoleranz führt. Wird weniger Histamin abgebaut, ist mehr Histamin vorhanden, wodurch mehr Rezeptoren besetzt werden können. Das kann dann zu den oben genannten Symptomen führen.
Liegt eine Histaminintoleranz vor, sollte man versuchen, histaminhaltige Lebensmittel – wie Hartkäse, Salami oder Rotwein – zu meiden. Man behandelt eine Histaminintoleranz, indem man DAO zu sich nimmt, sodass das Histamin wieder abgebaut werden kann oder man bekämpft die Wirkung des Histamins mit einem Antihistaminikum wie Cetirizin.
Antihistaminika der 1. Generation besetzen die H1-Rezeptoren und verhindern damit die Wirkung des Histamins an diesem Rezeptor. Da die Antihistaminika der 1. Generation ZNS-gängig sind, können sie auch die H1-Rezeptoren im zentralen Nervensystem blockieren, was zur Folge hat, dass dort das Histamin nicht mehr, bzw. weniger wirken kann.
Wir erinnern uns an die Wirkungen des Histamins am H1-Rezeptor: wach halten, Aufmerksamkeit steigern, Erbrechen auslösen. Sie wirken also, wie schon erwähnt, gegen Übelkeit, machen aber auch schläfrig. Da unter anderem das mit der Schläfrigkeit ein Problem darstellte, wurden Alternativen gesucht, die nicht ZNS-gängig sind und diese Effekte somit nicht haben.
Beispiele für Antihistaminika der 1. Generation sind Doxylamin und Diphenhydramin. Beide werden in Schlafmitteln eingesetzt. Dimenhydrinat ist eine Verbindung aus dem eben genannten Diphenhydramin und 8-Chlortheophyllin. Letzteres wirkt auf andere Weise der Müdigkeit entgegen. Dimenhydrinat macht also weniger müde als Diphenhydramin – weniger müde. Nicht nicht müde.
Cetirizin und Loratadin gehören zu den Antihistaminika der 2. Generation. Ihr Vorteil ist, dass sie weniger lipophil sind und somit kaum ZNS-gängig. Die Wirkung von Cetirizin tritt nach 10–30 Minuten ein. Loratadin hingegen muss erst zu Desloratadin, dem eigentlichen Wirkstoff, verstoffwechselt werden. Das dauert. Deshalb tritt die Wirkung von Loratadin erst nach 1–3 Stunden ein. Klarer Vorteil von Cetirizin. Ein weiterer Vorteil ist, dass Cetirizin bei allergischen Symptomen effektiver als Loratadin wirkt, wie Studien herausgefunden haben.
Ein entscheidender Nachteil ist allerdings, dass Cetirizin sehr viel müder macht als Loratadin, weshalb es auch vor dem Schlafengehen genommen werden soll. Die normale Dosierung beträgt zehn Milligramm Cetirizin pro Tag (oder pro Nacht). In den USA gibt es verschreibungspflichtige Tabletten, die 20 Milligramm Cetirizin enthalten. Bei der chronischen spontanen Urtikaria, deren Auslöser nicht bekannt ist, kann bei Nichtansprechen von zehn Milligramm Cetirizin die Dosis nach zwei bis vier Wochen bis auf 40 Milligramm erhöht werden, Off-Label-Use.
40 Milligramm Cetirizin machen natürlich deutlich müder als zehn Milligramm. In der Uni habe ich noch gelernt, dass Cetirizin nicht müde macht (vielleicht war ich aber auch zu müde und hab nicht richtig aufgepasst. Ich weiß es nicht. Vielleicht hätte ich auch mehr von der Vorlesung mitbekommen, wenn ich weiter vorne gesessen hätte. Allerdings war die erste Reihe immer von denen besetzt, die extra eine Stunde früher kamen, um dort sitzen zu können. Freaks!). In der Apotheke habe ich dann jedenfalls gelernt, dass Cetirizin sehr wohl müde macht. Aber eben nicht alle. Einige berichten, dass sie sich am nächsten Tag noch wie gerädert fühlen. Was natürlich aber auch an den Heuschnupfensymptomen liegen kann.
Laut Wikipedia tritt bei Cetirizin die Nebenwirkung Müdigkeit bei einem von 100 Anwendern auf. Im Beipackzettel wird Müdigkeit als Nebenwirkung hingegen als häufig angegeben, das heißt einer von zehn Anwendern. Ganz ehrlich? Ich halte das immer noch für untertrieben, weshalb ich mal auf Twitter nachgefragt habe. Rund 3.000 Cetirizin-Nutzer haben sich an der Umfrage beteiligt und rund 2.000 davon gaben an, dass Cetirizin sie müde mache. Das sind 65 Prozent.
Interessantes Ergebnis, oder? Das sind dann doch etwas mehr als jeder Zehnte, wie es im Beipackzettel steht, und wesentlich mehr als jeder Hundertste, wie es auf Wikipedia behauptet wird. Dazu kommt, dass viele vielleicht gar nicht bemerken, dass sie davon müde werden, weil sie Cetirizin vor dem Schlafen einnehmen. Wer mit Cetirizin nicht klar kommt, kann einfach mal Loratadin ausprobieren. Loratadin wirkt weniger sedierend.
Cetirizin liegt als Racemat vor: Levocetirizin und Dextrocetirizin. Die Wirkung geht vom Levocetirizin aus. Das Racemat zu trennen kostet Geld, weshalb reines Levocetirizin teurer ist als das 1:1-Gemisch von Levocetirizin und Dextrocetirizin, genannt Cetirizin.
Möchte man also etwas mehr Geld ausgeben und kauft das teurere Levocetirizin, erhält man Tabletten mit je fünf Milligramm Levocetirizin. Also genauso viel, wie auch in einer 10-Milligramm-Tablette Cetirizin enthalten ist. Die Wirkung ist im Grunde dieselbe. Allerdings berichten manche, dass sie von Levocetirizin weniger müde werden. Möglicherweise wären sie aber auch von den Cetirizin-Tabletten einer anderen Firma weniger müde geworden, bzw. müder von anderen Levocetirizin-Tabletten.
Levocetirizin wird zu den Antihistaminika der dritten Generation gezählt. Allerdings nur aus Marketinggründen, da es ja offensichtlich kein neues Molekül ist.
Desloratadin wird ebenfalls zur dritten Generation gezählt. Desloratadin ist die Substanz, die sich im Körper nach der Einnahme aus Loratadin bildet. Auch hier ist es im Prinzip egal, was man nimmt. Aber je teurer das Arzneimittel, desto größer scheint der Placeboeffekt. Wahrscheinlich zahlt man aus diesem Grund in der Apotheke auch acht Euro für zehn Gramm Zucker (harhar).
Bildquelle: Ashley Byrd, Unsplash
Zu Teil 1 der Mini-Reihe geht es hier: