Meinen Einstieg ins Medizinstudium bestimmt Corona. Alles ist komplizierter, vieles nervt, einiges geht gar nicht. Wir schaffen es, trotzdem das Beste daraus zu machen – auch ohne Stammkneipe.
Das erste Pflegepraktikum liegt hinter mir (hier könnt ihr meinen Text dazu lesen). Ich hatte mich auf viele Begegnungen gefreut, Corona und der Pflegenotstand waren meine ständigen Begleiter. Nun bin im ersten Semester, ein Ersti, und freue mich erneut auf Kontakte, im besten Fall sogar auf lang andauernde Freundschaften. Die Bedingungen dafür sind im Moment nicht so rosig. Wegen Corona – zum zweiten Mal.
Normalerweise lernt man sich so kennen:
Die Fachschaft organisiert Ersti-Tage mit einer Stadtführung und anschließendem Kneipenbummel. Es bilden sich schnell Grüppchen, die oft das ganze Studium über bestehen. Man kennt das aus Berichten älterer Semester, besser gesagt einer Generation über uns, die schon lange durch ist mit dem Studium und beim Erzählen immer so einen verklärten Blick bekommt. Uns ist im Moment gar nicht nach Verklärung, wir kämpfen mit der harten Realität, und die heißt Corona-Semester. Das gab es noch nie und ehrlich gesagt, es nervt.
Man könnte gemeinsam die neue Umgebung erkunden, Vorlesungen nacharbeiten und sich auf eine Lieblingskneipe einigen. Was man nicht versteht, bespricht man, diskutiert und lernt voneinander. Ich kenne dieses Ersti-Gefühl recht gut, denn ich habe vor meinem Medizinstudium bereits Biologie studiert. Umso mehr fallen mir die aktuellen Unterschiede auf. Da ich also kein wirklicher Ersti bin, tun sie mir schon ein bisschen leid, die echten Erstis. Ich habe diesen prallen Neuanfang zumindest schon einmal erlebt, und weiß umso mehr, was ich im Moment vermisse.
53 neue WhatsApp-Nachrichten zeigt mein Handy an. Fast alle Mitstudierenden haben sich, der Fachschaft sei Dank, per WhatsApp-Gruppe zusammengefunden. Da ist Chaos programmiert. Ständig blicke ich durch viele neue Nachrichten, um ja keine Information zu verpassen. Als Ersti hat man generell das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen. Deshalb starrt jeder von uns noch öfter auf sein Handy, als er es eh schon tut. Wann war nochmal die Deadline für Laborprotokoll X? Eine Frage, die vor Corona beim Anstehen in der Mensa ganz nebenbei gelöst worden wäre.
Stattdessen lese ich: „Kann mir jemand erklären, wie ich mich mit meiner Uni-Mail-Adresse einlogge?“ oder „Welchen Computer habt ihr für das Studium gekauft?“ Alles berechtigte Fragen, nur fällt es schwer, in der Fülle an Informationen die entscheidenden herauszufiltern. Überforderung ist absehbar.
Die Fachschaft hat's echt drauf. Nach dem Motto: „Ist zwar im Moment alles schwierig, aber wir machen das Beste daraus.“ So haben sie ein Treffen all der Studierenden organisiert, die zuvor bereits ein anderes Studium belegt hatten. Wir standen zwei Stunden draußen in einem großen Kreis mit Mund-Nasen-Schutz und haben uns ausgetauscht. Zum einen wollten wir uns kennenlernen, zum anderen ging es um bereits erbrachte Studienleistungen, die anerkannt werden. Normalerweise hätten wir irgendwo in einem stickigen Raum in der Uni gesessen, so standen wir bei schönstem Herbstwetter auf einem Aussichtspunkt mit Blick auf die neue Stadt.
Das ist auch Corona: Das Beste daraus machen, anders geht es nicht.
Ich frage mich schon manchmal, wie man in früheren Zeiten den Unibetrieb in einer solchen Situation am Laufen gehalten hätte. Ohne all die technischen Möglichkeiten wäre das Corona-Semester wahrscheinlich eine komplette Nullrunde geworden.
Die Dozierenden haben sich schneller als wir auf die neue Situation eingestellt. Die Vorlesungstechniken sind ausgefeilt, manche zeigen zusätzlich zu den Vorlesungsfolien einen Kameramitschnitt des Redners. Das erzeugt zumindest für kurze Zeit den Eindruck, als wäre man mittendrin.
Der Großteil der Professoren hat sich dazu entschieden, die Vorlesungen aufzuzeichnen. Uns ist freigestellt, wann und wo wir die Vorlesung verfolgen. Einerseits eine sehr angenehme Art zu lernen, andererseits erfordert es ein hohes Maß an Selbstdisziplin. Etwas, das man im Laufe des Medizinstudiums sowieso mehr als genug zu brauchen scheint. Aber als Ersti ist das schon eine gewaltige Herausforderung, wie ein Kommilitone in der WhatsApp-Gruppe kommentierte: „Erstis gleich so viel Selbst-Management zuzumuten, ist keine gute Idee.“
Ein großer Vorteil dabei ist, dass das Video jederzeit unterbrochen werden kann. Ich persönlich benötige meist die doppelte der eigentlichen Vorlesungszeit, weil ich ständig spule, etwas nachschlage oder parallel Karteikarten schreibe. Wenn ich die Karteikarten später dann nochmals durchgehe, merke ich: Der Stoff sitzt schneller und besser.
In den naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern fangen die Professoren ganz von vorne an. Ich setze die Video-Geschwindigkeit auf 1,25, weil der Dozent langsam spricht und ich das Thema bereits aus meinem vorherigen Studium gut kenne. Effizientes Lernen, ohne Zeit zu verschwenden. Das ist eben auch das Corona-Semester: Was anfangs alles andere als optimal erschien, stellt sich im Verlauf als gar nicht so übel heraus.
Der virtuelle Vorlesungssaal füllt sich zu dieser, im Moment besonders passenden Vorlesung bis auf den vermeintlich letzten Platz. Es geht um den Bereich Berufsfelderkundung. Fast alle 300 Erstis sind bei der Live-Vorlesung dabei. Ein Virologe aus der Uniklinik berichtet über seinen persönlichen Werdegang und erklärt Weiterbildungsmöglichkeiten in seinem Fachgebiet.
Lange, fast eine Stunde nimmt er sich Zeit und beantwortet ausführlich die zahlreichen Fragen. Mir fällt auf, wie viele Studierende Fragen über das Chatfenster des Programms stellen, besonders natürlich zum Thema Corona. Viele wollen mehr über dieses Virus wissen, das der Grund dafür ist, warum wir ihn nur auf unseren Bildschirmen und nicht persönlich im Hörsaal sehen können. Würden genauso viele in einem überfüllten Vorlesungssaal die Hand heben und eine Frage stellen?
Auch das gehört zum Studium in Corona-Zeiten: Ein Vorlesungssaal, der quasi unbegrenzt lange belegt werden kann, ohne dass die anschließende Veranstaltung den Zeitrahmen limitiert. Ein Chatfenster, in dem jeder Studierende zur Sprache kommt und auch Schüchterne sich trauen, Fragen zu stellen.
Ich möchte keinesfalls die nächsten sechs Jahre bis zur Approbation so weiterstudieren. Mir fehlen die persönlichen Begegnungen, die Hörsaalatmosphäre, das gemeinsame Lernen und das anschließende miteinander Feiern. Darauf im Moment zu verzichten, ist unser Beitrag, dem exponentiellen Wachstum der Pandemie entgegenzusteuern. Das ist es uns wert.
Gleichzeitig bin ich dankbar für all die Kreativität und technischen Möglichkeiten, die Uni und Fachschaft auf die Beine gestellt haben. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Effizientes Lernen und Motivationstraining geht auch mit Corona. Außerdem sind Krankheiten der entscheidende Grund, warum es Ärzte braucht. Wenn das keine Motivation ist.
Und vielleicht werden ja viele aus meinem Semester tatsächlich Virologen.
Bildquelle: DonnaSenzaFiato, pixabay