„He Leute, wir kriegen heute wieder einen neuen COVID-Fall. Können wir uns bei unseren feiernden Mitmenschen bedanken.“ Das Pandemiegeschehen wird stürmischer – und ich als kleiner Anfänger sitze mit im Boot.
Was mir von der ersten Minute an auffällt: Es herrscht Pflegenotstand und zwar gewaltig. Ich laufe fast jeden Tag bei anderen Mitarbeitern mit. Deshalb komme ich mir in den folgenden vier Wochen als einer der Wenigen vor, die konstant auf der Station sind. Die meisten arbeiten in Teilzeit, vielleicht weil die Belastung sonst nicht auszuhalten ist. Immer wieder werden die personellen Lücken von Honorarkräften aufgefangen, die zwar korrekte Arbeit leisten, aber das große Ganze nicht erfassen können.
Mein Gefühlszustand: erwartungsvoll, vielleicht auch ein wenig angespannt. Innerlich noch aufgewühlt, weil das Unwahrscheinliche wahr geworden ist: Ich habe einen Medizinstudienplatz bekommen. Ich stehe vor dem Stationszimmer der Urologie. Vor mir liegen vier Wochen Pflegepraktikum und ich freue mich darauf.
Am Anfang weiß ich vor lauter Abkürzungen und Fachtermini gar nicht, von was die eigentlich reden. Mit der Zeit blicke ich immer mehr durch und mein großer Vorteil ist, dass ich jeden Tag da bin. Mittlerweile übernehme ich die Katheterpflege bei Herrn Schmidt gerne, weil wir uns ein bisschen kennengelernt haben und ich genau weiß, wo die Schwierigkeiten liegen.
Am zweiten Tag bin ich extra früher da. Ich bin zum Frühdienst eingeteilt und ich brauche einfach länger, um richtig klar in den Tag zu starten. Die Pflegefachfrau vom Nachtdienst hat mich schon gesehen und ruft: „Kannst du mal in die 210 gehen? Da muss jemand versorgt werden. Ich muss gleich Übergabe machen und schaff das nicht mehr.“ Eigentlich bin ich noch gar nicht im Dienst und ahne auch, was mich erwartet. Ein Blick ins Patientenzimmer reicht, um meinen aufkommenden Ärger zu spüren: „Noch gar nicht richtig da und schon Hintern abwischen. Hätte sie doch noch selber machen können.“ Es dauert auch nicht lange und die Kollegin steht etwas reumütig in der Tür: „Kann dir doch noch helfen. Die anderen sind noch gar nicht da zur Übergabe.“ Ich sehe in ihr müdes Gesicht und möchte gar nicht wissen, wie oft sie heute Nacht auf Klingel gegangen ist. „Nee, lass mal, ich kann das gut alleine machen.“ Und ärgere mich darüber, dass ich mich geärgert habe.
Ich starte meinen Weg in die Medizin in einer Zeit, die sich so krass von allem zuvor unterscheidet. Das macht auch vor dem Pflegepraktikum nicht halt. Meine Station versorgt den abgetrennten COVID-Bereich mit, und ich bin gerade mal da und schon mittendrin. Ich darf zwar nicht in die Isolierzimmer hinein, bekomme aber Dinge daraus angereicht oder helfe als Springer aus. Ich sehe, wie sich die Zimmer wieder füllen und wie kompliziert das An- und Ausziehen der Schutzausrüstung ist. Hier ist jeder Handgriff geplant und was einmal im Isolierbereich war, kann nicht einfach wieder herausgenommen werden. Es wird jede helfende Hand gebraucht. Im Stationszimmer dann bei der Übergabe: „He Leute, wir kriegen heute wieder einen neuen COVID-Fall.“ „Ach, hättest du das gedacht! Können wir uns wieder bei unseren feiernden Mitmenschen bedanken.“ Auch wenn ich Sarkasmus nicht mag, ich kann meine Mitarbeiter ein bisschen verstehen. Der Pflegenotstand zeigt sich hier besonders heftig. Klatschen alleine genügt nicht.
Als ich nach der Arbeit am Mülleimer vorbei gehe, fällt mir auf, dass letzte Woche noch alles voller blauer OP-Masken war. Nun sehe ich fast nur noch FFP2-Masken. Das Pandemiegeschehen wird stürmischer, und ich als kleiner Anfänger sitze mit im Boot.
Ich dachte immer, zwischen Pflegeteam und Ärzten herrscht aufgrund der verschiedenen Kompetenzbereiche eine Rivalität. Hier mache ich andere Erfahrungen. Im Grunde ist es ein wohlwollendes faires Miteinander. Gestresst sind aber auch die Ärzte. Vor drei Tagen kam Herr Huber auf die Station, weil er mit seinem E-Bike gestürzt und eine Nierenprellung erlitten hatte. Morgen soll er entlassen werden. Warum er jetzt noch einmal klingeln muss, verstehe ich gerade nicht.
Als ich ihn sehe, wird es mir klar. Er sitzt auf seinem Bett und windet sich vor Schmerzen. Ich klingle nach einer examinierten Kraft, denn als Praktikant darf und weiß ich eigentlich nichts. Es wird der Stationsarzt angepiepst, der gerade wegen einer Nachblutung in 212 über die Station gerannt kommt und zischt: „Ich bin am Anschlag!“ Nun schaut er kurz zu Herrn Huber, diagnostiziert eine Nerveneinklemmung und ordnet Schmerzmittel an. Ich bemerke, dass Herr Huber heute noch wenig im Vergleich zur Trinkmenge ausgeschieden hat, aber das wird von allen anderen als vernachlässigbar gesehen. Naja, ich bin ja hier das kleinste Licht und halte mich mit meiner laienhaften Diagnose „Harnstau“ mal lieber zurück. Bin aber trotzdem auf die Übergabe morgen gespannt und ob Herr Huber entlassen wird.
Ab und zu bekomme ich dann doch mal Kritik an den Ärzten von Seiten des Pflegeteams gesteckt. Manchmal wünsche man sich eine klarere Kommunikation, wenn es um Anordnungen geht. Auch würden Kompetenzbereiche nicht immer gut abgegrenzt, so dass typische Ärzteaufgaben an die Pflege abgedrückt werden. Den Unmut, der dabei entsteht, kann ich gut verstehen. Dann wird mir auf die Schulter geklopft mit den Worten: „Merk dir das! Für später.“
Nun habe ich den ersten von drei Monaten Pflegepraktikum geschafft.Mich hat jemand zuvor gefragt: „Was erwartest du dir vom Pflegepraktikum?“Meine Antwort: „Hintern abwischen und Leute rumfahren.“Was habe ich gemacht: Hintern abgewischt und Leute rumgefahren. Aber auch vieles mehr. Für den einen oder anderen Patienten war ich durch mein konstantes Dasein eine Bezugsperson, die auch einmal Zeit für ein Gespräch hatte.
Ein Freund von mir studiert BWL und macht gerade ein Praktikum in einer Firma. Das bedeutet: Du schaust zu. Pflegepraktikum heißt: Du schaffst mit.
Ganz ehrlich: Ich bin froh, dass ich nicht nur zugeschaut, sondern vom ersten Tag an mitangepackt habe. Ich bin dankbar für diese ersten Eindrücke auf meinem Weg in die Medizin. Und ich verspreche es: Ich merk mir das. Für später.
Bildquelle: Brian McGowan, Unsplash