Woher kommt SARS-CoV-2? Diese Frage beschäftigt Wissenschaftler seit Monaten. In einer Arbeit werden nun Bergleute mit der Pandemie in Zusammenhang gebracht. Wie plausibel ist die neue Theorie?
Seit Beginn der Pandemie suchen Forscher nach Erklärungen. Verschwörungstheorien machten die Runde, aber auch plausible Vermutungen wurden diskutiert, DocCheck berichtete. Nun haben ein Virologe und eine Biologin aus den USA sich die Arbeit gemacht und Bekanntes und Neues zusammengetragen. Die Hypothese von Jonathan R. Latham und Allison Wilson ist gewagt, aber nachvollziehbar.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Bergleute. Sie arbeiteten in einem Grubenschacht in China und waren bereits 2012 an einer seltsamen Pneumonie erkrankt. Deshalb ist diese Corona-Hypothese nach dem Schacht benannt und nennt sich MMP-Hypothese (Mojiang Miners Passage). Bei der Passage natürlicher Coronaviren durch den Körper der Bergleute soll letztlich SARS-CoV-2 entstanden sein.
Alles begann natürlich mit der Frage, wo SARS-CoV-2 eigentlich herkommt. Unterschiedlichste Forscher aus vielen Ländern haben Proben aus verschiedenen Tieren untersucht. Besonders eng war RaTG13, ein Fledermaus-Sarbecovirus aus chinesischen Provinz Yunnan, mit SARS-CoV-2 verwandt. Die genetische Übereinstimmung liegt bei rund 96 Prozent.
Nicht ganz so hoch ist die Übereinstimmung bei Schuppentieren (Pangoline). Sie scheiden damit aus. Das Pangolin-Coronavirus (Pangolin-CoV-2020) und SARS-CoV-2 sind nur zu 90,32 Prozent identisch. Auch Fische oder Meeresfrüchte spielen keine Rolle; der Markt in Wuhan hat entgegen vielen Vermutungen nicht zum Ausbruch mit beigetragen; keine der untersuchten Proben enthielt SARS-CoV-2.
Immer wieder haben Laienmedien spekuliert, dass das neuartige Coronavirus künstlich im Labor entstanden sein könnte, vielleicht sogar im Zuge der Herstellung von Biowaffen. Diese Vermutung entkräften Forscher am Massachusetts Institute of Technology (MIT) Cambridge.
In jedem Virus gibt es Zielstrukturen für Manipulationen. Mit dem FELIX-Tool (Finding Engineering-Linked Indicators) des US-amerikanischen Geheimdienstes durchsuchten sie das Erbgut, ohne Hinweise auf Manipulationen zu finden. Ähnlichkeiten gab es – wie zu erwarten – mit natürlich vorkommenden, bekannten Coronaviren.
Bleiben wir bei den Fledermäusen. Im April 2012 erkrankten sechs Bergleute der Mojiang-Mine, sie liegt im südwestchinesischen Yunnan, schwer. Ärzte fanden Hinweise auf viral ausgelöste Pneumonien. Betroffene litten an Fieber, trockenem Husten und Auswurf. Heute würde jeder Kollege bei diesen Symptomen sofort an COVID-19 denken.
Trotz stationärer Behandlung und intensiver Therapie starben drei der Patienten. Proben aus ihrem Blut und Thymusgewebe wurden molekularbiologisch untersucht. Dabei fanden Molekularbiologen ein bislang unbekanntes Virus. Es hatte große Ähnlichkeit mit einem Coronavirus aus der chinesischen Hufeisenfledermaus. Die Bergleute litten wohl an Coronavirus-Infektionen mit teils tödlichem Ausgang.
Bald darauf untersuchten Wissenschaftler des Wuhan Institute of Virology besagte Höhle systematisch. Sie sammelte Kotproben von 276 Fledermäusen. Mithilfe genetischer Sequenzierungen konnten neun Coronavirenarten nachgewiesen werden, von denen sechs neu waren. Darunter befand sich, wie vermutet, auch RaTG13. Die Übertagung von Fledermaus-Viren auf den Menschen ist schon länger bekannt. Hier nimmt die MMP-Hypothese ihren Anfang.
Obwohl das Fledermaus-Coronavirus RaTG13 zu 96 Prozent mit SARS-CoV-2 identisch ist, sind vier Prozent Unterschied immer noch ein großer Wert. Die natürliche Evolution hätte 20 bis 50 Jahre gedauert. Daher gilt ein Zwischenwirt, wie bei SARS oder MERS, als recht wahrscheinlich. Passagen durch den Organismus beschleunigen Veränderungen im Genom.
Die MMP-Hypothese besagt, dass sich RaTG13 bei den Bergleuten in der Mojiang-Höhle möglicherweise zu SARS-CoV-2 entwickelt hat. Sie arbeiten – vor allem in China – unter schlechten Bedingungen. Ohne geeigneten Atemschutz gelangt staubförmiger Fledermauskot bis in tiefere Atemwege. Eine hohe Viruslast könnte die Evolution beschleunigt haben. Daher war Patient Null der Pandemie vielleicht einer der Bergleute. Im Krankenhaus wurden sie nicht sonderlich isoliert. Bei der Pneumonie dachte anfangs niemand an ein neues Virus.
Es gibt aber noch andere Vermutungen in Zusammenhang mit den Bergleuten: Biologisches Material wurde zu Forschungszwecken an das Wuhan Institute of Virology geschickt. Da die Einrichtung zum Zeitpunkt der Probenentnahme im Bau war, ist das Virus möglicherweise unbeabsichtigt aus einem Labor entwichen.
Darüber mag die wissenschaftliche Empörung groß sein, es wäre aber kein Einzelfall. USA Today berichtet über 1.100 bekannte Laborunfälle zwischen 2008 und 2012. Auch das NEJM erklärt einen Ausbruch von H1N1-Influenza 1977 „wahrscheinlich mit einer versehentlichen Freisetzung aus einer Laborquelle“.
„Wir haben in den letzten Jahren selbst in hochkarätigen Labors gesehen, dass Unfälle passiert sind oder Fehler gemacht wurden“, erklärt Dr. Filippa Lentzos, Biosicherheitsexpertin am King's College London. „Zum Beispiel gab es 2014 bei den CDC Sicherheitslücken in Zusammenhang mit dem Ebola-Virus, Anthrax und mit Vogelgrippe, und am NIH gab es Pannen beim Variola-Virus, das Pocken verursacht.“
Hier lohnt sich speziell ein Blick auf China: US-Beamte hatten fehlende Standards im virologischen Institut Wuhans kritisiert. Und weit vor der SARS-CoV-2-Pandemie gab es Unfälle mit Fledermäusen, bei denen Laboranten verletzt wurden.
Bleibt als Fazit, dass es sich momentan nur um Hypothesen handelt. Latham und Wilson führen jedoch weitere Argumente an, warum eine Passage durch Menschen wahrscheinlich ist:
Die Biologin und der Virologe haben eine spannende Hypothese geliefert. Jetzt gilt es, wissenschaftliche Beweise dafür zu sammeln.
Bildquelle: Pedro Henrique Santos, unsplash