Eine neue Zoonose, eine Biowaffe oder doch ein missglücktes Experiment im Wuhaner Labor: Vermutungen über die Herkunft von SARS-CoV-2 häufen sich. Was ist an den Gerüchten dran?
Zu Beginn der COVID-19-Epidemie galt ein Fischmarkt in Wuhan als Quelle des neuartigen Coronavirus. Dort handeln Verkäufer mit allerlei Getier, auch Fledermäuse oder Schlangen sollen sich darunter befinden. Eine Verkäuferin von Shrimps galt laut Wall Street Journal als Patientin null; sie erkrankte am 10. Dezember.
Forscher, aber auch Journalisten, stellen diese Theorie immer wieder infrage. Eine Beschreibung früher klinischer Fälle in The Lancet wirft ebenfalls Fragen zur Hypothese auf: 13 von 41 Patienten hatten weder direkt noch indirekt über andere Menschen Verbindungen zum Markt.
Jetzt berichtet CNN von starken Einschränkungen bei wissenschaftlichen Studien, aber auch bei der Berichterstattung. Das stimmt zumindest nachdenklich und liefert viel Nährboden für alternative Theorien.
Dazu gehört die Vermutung, beim neuartigen Coronavirus handele es sich in Wirklichkeit um eine Biowaffe. „Wir haben viele Geheimdienste gehabt, die sich das genau angesehen haben“, kommentiert US-Generalstabschef Mark Milley . „Ich würde an dieser Stelle einfach sagen: Es ist nicht eindeutig.“ Das Gewicht der Beweise gehe in Richtung eines natürlichen Ursprungs, aber man wisse es nicht genau.
Noch deutlichere Worte finden Wissenschaftler. „So etwas kann man im besten Labor der Welt nicht herstellen“, sagt Dr. Gunnar Jeremias, Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe zur Analyse biologischer Risiken an der Universität Hamburg. Zur Begründung verweist er auf eine in Nature Medicine veröffentlichte Analyse des viralen Genoms.
Kristian G. Andersen vom Scripps Research Institute, La Jolla, nahm die Rezeptorbindungsdomäne im Spike-Protein neuartiger Coronaviren unter die Lupe. Diese dockt bekanntlich an ACE2-Rezeptoren der Lunge, und die Infektion beginnt.
Doch Computeranalysen zeigen, dass die Wechselwirkung nicht optimal ist, wie es bei einer guten, künstlich hergestellten Biowaffe zu erwarten wäre. Außerdem gibt es deutlich wirksamere, gut verfügbare Erreger. Eine Zusammenstellung haben die Centers for Disease Control and Prevention (CDC), Atlanta, erarbeitet.
Das nächste Argument: Andersen fand im Erbgut neuartiger Coronaviren keine Hinweise auf revers-genetische Manipulationen. Theoretisch könnte man einzelne Teile bekannter Betacoronaviren so manipulieren, dass hoch pathogene Erreger entstehen. Doch Spuren davon lassen sich nicht nachweisen.
Es gibt aber noch weitere Theorien zur Herkunft der Erreger. Rund 300 Meter vom Wuhaner Fischmarkt entfernt erforscht Shi Zheng-Li, eine von Chinas führenden Virologinnen, verschiedene Coronaviren. Ihre Proben kommen aus Fledermäusen, die Zheng-Li selbst bei Expeditionen sammelt – das hat ihr das Alias „Batwoman“ eingebracht. Und Zheng-Li berichtete als erste Forscherin, dass das neuartige Coronavirus etliche Gene mit Erregern aus einer Fledermausart teilt.
Der britischen Daily Mail zufolge sollen im Labor auch Experimente mit Säugetieren stattgefunden haben. Forscher injizierten Ferkeln verschiedene Fledermaus-Viren. Die Tatsache lässt sich belegen, denn es wurden zwei Studien in hochrangigen Journalen publiziert:
Möglicherweise kam es zu einer Panne im Labor, was das Epizentrum am Wuhaner Fischmarkt erklären könnte. Auch die Washington Post hält einen Zwischenfall für recht wahrscheinlich. Unfälle mit bekannten Coronaviren sind in der Vergangenheit durchaus vorgekommen und wurden in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlicht.
Zheng-Li selbst dementiert dies. In einem Beitrag aus 2019 wies sie zusammen mit Kolleginnen darauf hin, dass nach SARS, MERS und SADS ein weiteres Auftreten von Coronaviren in China aus virologischer Sicht wahrscheinlich sei.
Andersen will das Unfall-Szenario nicht ausschließen: „Theoretisch ist es möglich, dass SARS-CoV-2 Mutationen im Bereich von Rezeptorbindungsdomänen bei Passagen in der Zellkultur erworben hat, wie dies in Studien mit SARS-CoV 11 beobachtet wurde“, schreibt der Forscher. Das heißt: Die Pathogenität entstand gewollt oder ungewollt im Labor. Dann kam es zur Freisetzung.
Gleichzeitig relativiert Andersen: „Der Befund von SARS-CoV-ähnlichen Coronaviren aus Pangolinen mit nahezu identischen Rezeptorbindungsdomänen liefert eine viel stärkere und wahrscheinlichere Erklärung dafür, wie SARS-CoV-2 diese durch Rekombination oder Mutation erworben hat.“ Die genetische Übereinstimmung von Erregern aus Schuppentieren mit menschlichen Isolaten liegt in der relevanten Spike-Region bei 99 Prozent – das ist mehr als bei Fledermäusen (77 Prozent Übereinstimmung). Malaiische Pangoline (Manis javanica) wurden vor Ort illegal gehandelt, das ist bekannt.
Was gegen die Hypothese spricht: Weder die bisher untersuchten Fledermaus-Betacoronaviren noch die Pangolin-Betacoronaviren weisen charakteristische Spaltstellen für Enzyme (Proteasen) auf. Vielleicht hat man das richtige Virus einfach noch nicht gefunden. „Es ist aber auch möglich, dass ein Vorläufer von SARS-CoV-2 Menschen infiziert und die spezifischen genomischen Merkmale durch Anpassung während einer unentdeckten Übertragung von Mensch zu Mensch erworben hat“, spekuliert Andersen.
„Obwohl die Daten zeigen, dass SARS-CoV-2 kein absichtlich manipuliertes Virus ist, ist es derzeit unmöglich, die anderen Theorien seiner Herkunft zu beweisen oder zu widerlegen“, resümiert Andersen.
„Da wir jedoch alle bemerkenswerten SARS-CoV-2-Merkmale, einschließlich der optimierten Rezeptorbindungsdomäne und der Spaltstelle bei verwandten Coronaviren in der Natur beobachtet haben, glauben wir nicht, dass irgendeine Art von laborbasiertem Szenario plausibel ist.“
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