Alle reden jetzt über die Ergebnisse der Heinsberg-Studie. Bei einer virtuellen Pressekonferenz stellten Bonner Virologen heute ihre Arbeit vor. Spoiler: Bahnbrechend ist sie nicht.
Seit ihrer ersten Vorstellung im April wird über die Heinsberg-Studie diskutiert. Gemeint ist die Analyse des Coronaverlaufs im nordrhein-westfälischen Heinsberg, genauer gesagt in der dortigen Gemeinde Gangelt. Als kurz vor Ostern die ersten Zwischenergebnisse dieser Analyse verkündet wurden, hagelte es Kritik. Der Bonner Virologe Hendrik Streeck und sein Team hätten ungeeignete Antikörpertests verwendet, die Berechnungen zur Immunität seien irreführend, hieß es unter anderem. Und auch die Finanzierung und PR-Begleitung der Studie stieß vielen sauer auf (wir berichteten).
Seit heute Morgen ist nun ein Pre-Print der Heinsberg-Studie verfügbar. Sie wurde im Rahmen einer vom Science Media Center organisierten virtuellen Pressekonferenz vorgestellt. Auch wir nahmen teil, um uns anzuhören, was Streeck und Gunther Hartmann über ihre Arbeit zu berichten haben. Hartmann ist Direktor des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie an der Universtität Bonn. Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, ordnete die Studienergebnisse als unbeteiligter Wissenschaftler ein.
Zunächst stellte Streeck den Ausgangspunkt der Analyse vor. Er präsentierte einige Grafiken aus der Heinsberg-Studie, in denen unter anderem der zeitliche Rahmen sowie die Anzahl und Alterszusammensetzung der Studienteilnehmer erfasst sind.
Quelle: Screenshot
Streeck merkte an, dass Kinder unterrepräsentiert seien. Dafür seien Über-65-Jährige überrepräsentiert. Das sei einer der Gründe, warum sich die Ergebnisse der Heinsberg-Studie nicht auf ganz Deutschland übertragen ließen – es handle sich bei diesen Versuchen um reine Modellrechnungen, die allgemeine Demografie sei zu berücksichtigen, stimmte Krause zu.
Während Hartmann dennoch andeutete, eine Übertragung der Heinsberger Zahlen auf Deutschland sei unter gewissen Gesichtspunkten möglich, war Krause anderer Meinung. Er warnte vor solchen Hochrechnungen: „Eine Übertragbarkeit auf Deutschland ist nicht gegeben, da muss man vorsichtig sein“, so der Epidemiologe. Es sei das klassische Problem der kleinen Zahlen, also des sehr eng begrenzten Studienraums. So ergebe sich auch deshalb eine vergleichsweise geringe Letalität, weil es in Gangelt zum Beispiel kein vom Coronavirus betroffenes Altenheim gibt.
Ein Twitter-User bringt es humoristisch auf den Punkt:
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Grundsätzlich sei der Ort aber ein gutes Modell. Eine Infektionswelle herrschte zum Zeitpunkt der Untersuchungen bereits vor, als anderenorts noch keine Corona-Fälle bekannt waren. Und im Gegensatz zu Ischgl blieben die Menschen nahezu durchgehend vor Ort. In beiden Gegenden gab es hochinfektiöse Events (Karneval und Ski-Tourismus), aber in Ischgl sind nach Bekanntwerden der Virus-Ausbreitung viele Menschen ein- und ausgereist. Das sei in Heinsberg nicht der Fall gewesen. Die Ansteckung innerhalb einzelner Haushalte und der oft symptomarme Verlauf einer Infektion konnten daher ebenfalls gut untersucht werden, wie Hartmann erklärte.Quelle: ScreenshotWas sich hier auf kleinerer Skala bestätigt, ist unterdessen bereits seit Anfang der Pandemie bekannt: Eine SARS-CoV-2-Infektion verläuft oft mit wenigen Symptomen.
Die auf den ersten Blick paradoxe Beobachtung, dass die Ansteckungsgefahr nicht mit der Zahl der Personen im Haushalt wächst, erklärten die Bonner Forscher damit, dass in größeren Haushalten oft auch mehr Platz sei, sich auszuweichen. Man könne also eine infizierte und eventuell auch erkrankte Person leichter isolieren als in kleineren Haushalten mit weniger Personen.
Dazu äußerte Virologe Christian Drosten im ZDF vor kurzem ebenfalls eine Vermutung: „Wir wissen nicht ganz genau, warum das eigentlich so ist, dass nicht alle im Haushalt sofort infiziert werden. […] Da sind Zufälle dabei, da sind sicherlich auch Maßnahmen dabei, dass man versucht, sich voneinander fernzuhalten. Aber in so einem Haushaltskontext, da fragt man sich eben schon, ob nicht eine gewisse bisher unerkannte Immunität auch vorliegt in einem Teil der Bevölkerung, zum Beispiel durch die Erkältungscoronaviren vermittelt.“
In einer abschließenden Grafik der Heinsberg-Studie sind die Infektionszahlen in Bezug auf Geschlecht, Alter, Vorerkrankungen, Karneval und Anzahl der Symptome gelistet:
In seiner zusammenfassenden Einschätzung der Studie nimmt Krause auch hierauf Bezug. Die Beobachtung, dass vor allem jüngere Frauen in Heinsberg infiziert seien, lohne weitere Untersuchungen, so der Epidemiologe. Grundsätzlich sei die Arbeit ein erster Anhaltspunkt, um das Verhältnis Gestorbene zu Infizierte zu berechnen. Allerdings gibt es auch hier ein Cave: Da es sich um eine sehr kleine Community handelt, die in der Studie untersucht wurde, fallen einzelne Todesfälle schwer ins statistische Gewicht. Eine Verrechnung, wie von den Bonner Forschern vorgenommen, hält Krause daher für schwierig. Sobald nur ein Toter nicht als Coronafall oder umgekehrt falsch als Corona-Toter eingeordnet wurde, verfälsche das bereits das Ergebnis.
Krause räumte an dieser Stelle aber kollegial ein, dass die Heinsberg-Studie statistisch nicht darauf ausgelegt sei, statistisch signifikante Hinweise auf Parameter wie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, dem Alter und Komorbiditäten der Erkrankten und Toten zu finden. Das bestätigte Streeck eilig: „Dafür ist die Studie nicht gepowert.“
Bildquelle: Asique Alam, Unsplash