Der Corona-Wahnsinn macht deutlich, wie unterschiedlich Angst sich äußern kann. Ein Beitrag über unsere Ängste.
Da dachten wir uns noch kürzlich noch, dass 2020 alles besser wird. Und dann wurde alles anders. Für mich persönlich, in meinem ganz privaten Umfeld, ist vieles gut. Manches besser. Einige Dinge überragend. Und dennoch wird alles momentan überschattet von Covid-19.
Man liest sich durch die sozialen Medien und das, was man überall sieht, ist Angst und Panik. Es gibt keine anderen Themen mehr als Corona. Verständlich, weil es uns alle jeden Tag betrifft, unser normales Leben auf den Kopf stellt und man sich Sorgen um die Zukunft und um seine Angehörigen macht.
Alles, wovor wir im letzten Jahr Angst hatten, Klimawandel, Umweltverschmutzung, Kriege, scheint momentan weit weg und die Ängste werden jetzt maximal gebündelt auf das Coronavirus. Was mir persönlich am meisten Angst macht, ist die Vorstellung von Ausgangssperren. Ich bin sowieso selten an großen Veranstaltungen beteiligt. Aber dass ich meine wenigen Menschen, die mir im Leben essenziell wichtig sind, dann nicht mehr sehen soll, lässt mich mit einem großen Gefühl der Einsamkeit zurück. Denn Skypen, Facetimen, Videochat oder Telefonieren ist eben nicht das Gleiche. Aber gut, da müssen wir jetzt durch. Und das bloß, weil ein paar Menschen meinen, sie müssten sich in Pandemiezeiten in größeren Gruppen an öffentlichen Plätzen treffen. Bravo. Großes Kino.
Ja, das alles macht mir Angst, vor allem die Konsequenzen der Pandemie. Aber Angst ist selten ein guter Ratgeber. Sie kann sinnvoll sein, wenn es um den Schutz des eigenen Lebens geht, weil sie ein normaler Gemütszustand – ein Affekt – ist, der schützen soll. Angst bedeutet ursprünglich: Achtung, hier kann es gefährlich werden. Pass auf dich auf. So ist es ja auch mit der neuen Krankheit. Wir wollen alle nicht, dass es für uns gefährlich wird.
Aber Ängste können sich auch verselbstständigen und zu einem Problem werden. Sie werden durch die sozialen Medien maximal befeuert. Spekulationen, Verschwörungstheorien, laut gebrüllte Meinungen, rausgepickte Zahlen ohne Zusammenhang, Bilder von Särgen, Beschimpfungen von Andersdenkenden. Manche der Berichterstattungen helfen, eine gewisse Vorsicht walten zu lassen. Den Ernst der Lage zu erkennen. Andere wiederum schüren bloß die Panik.
„Eine 25-jährige starb an Corona!“ lautet eine Überschrift. Ja, große Scheiße ist das, natürlich. Eine Katastrophe. Ich sah aber auch schon 16-Jährige an Morbus Crohn, 35-Jährige an Magenkrebs und 22-Jährige an einer Hirnblutung sterben. Und es gibt 103-Jährige, die Covid-19 überstehen. Wir können einzelne Fälle nicht bewerten. Weder die gut, noch die schlecht verlaufenden. Diese Berichte sind aktuell Gift für ängstliche Seelen. Ich will es nicht relativieren, aber um Vorsicht bitten, was einzelne Fallbeispiele angeht, wenn wir die Hintergründe nicht kennen.
Ich habe mich daher in den letzten Tagen etwas aus den sozialen Medien zurückgezogen. Ich kann einfach keine Bilder mehr von Hamsterkäufen sehen. Oder Tweets von Menschen, die fernab der Medizin ihre Meinungen in die Welt hinaustippen und plötzlich alle anderen wegsperren oder verprügeln wollen, die zwei Packungen Klopapier kaufen. Es scheint (in den sozialen Medien) nur noch Extreme zu geben.
Menschen mit psychischen Störungen macht diese Zeit schwer zu schaffen. Menschen, die sich sowieso einsam fühlen. Oder mit Depressionen zu kämpfen haben. Oder eben mit Ängsten, die zur Zeit zusätzlich gefüttert werden. Ich wurde als Kind viel alleine gelassen und die Angst vor der Einsamkeit lässt mich aktuell an die Grenzen meiner Copingstrategien kommen. Zu persönlich für die Öffentlichkeit? Egal. Ich weiß, dass es vielen geht wie mir.
Welche Formen von Ängsten gibt es eigentlich? Die wichtigsten sind:
Das Problem ist, dass sich viele Angstpatienten aus dem sozialen Leben zurückziehen, weil sie Angst vor der Angst haben – das nennt man Erwartungsangst und befeuert das Krankheitsbild zusätzlich. Manche versuchen, sich mit Alkohol oder Beruhigungstabletten selbst zu behandeln, was aber langfristig durch die Entstehung von Abhängigkeiten definitiv nach hinten losgeht.
Eine Panikstörung zeigt sich durch ausgeprägte generalisierte Symptome wie Herzrasen, Zittern, Atemnot (Hyperventilation, das Gefühl, eingeschnürt zu sein), Schwindel, Erstickungsgefühle und oft Todesangst. Oft treten diese Attacken ohne erkennbaren Auslöser und für die Betroffenen überraschend „aus heiterem Himmel“ auf. „Wie ein Gewitter“, sagte mal eine Patientin zu mir. Das Gewitter muss man dann vorüberziehen lassen, was leichter ist, wenn man es als Gewitter betitelt und weiß, es geht vorbei. Frauen sind häufiger von Panikstörungen betroffen. Oft verlieren sich die Panikattacken im höheren Alter.
In der Notaufnahme hatten wir oft Patienten, die mit einer Panikattacke aufschlugen und meist führt das eher jüngere Alter zur Diagnose einer Panikattacke. Wenn die erhobenen körperlichen Befunde in Ordnung sind, muss man ein vorsichtiges Gespräch führen, denn häufig wissen die Patienten anfangs nicht, was mit ihnen los ist.
Ich erinnere mich an einen jungen Mann, der plötzlich regelmäßig Herzrasen bekam. Er war auch schon beim Kardiologen vorstellig geworden, der ihm ein gesundes Herz attestierte. Nachts um 23:45 Uhr kam er also zu mir und wir machten ein EKG, das ohne Krankheitswert war. Auch der Blutdruck war gut. Schilddrüse vielleicht? Der Hausarzt habe auch schon mal Blut abgenommen, erklärte mir der junge Mann. Alles sei normal. Ich fragte also nach: „Stress? Seelische Belastungen?“ Nein, nur die Nachtschicht nerve ein bisschen. Dafür habe er dann tagsüber Zeit für den Hausbau, seine drei Kinder und den Leistungssport. Eigentlich voll gut, so kriege er alles unter einen Hut (ich habe diesen Fall schon an anderer Stelle geschildert).
Puh. Das klingt ja total entspannt. Als ich ihn über meinen Verdacht sprach, wirkte er beinahe erleichtert. Als hätte er es geahnt, aber wollte es sich selbst nicht eingestehen. Nun, von offizieller Seite bestätigt, konnte er die Diagnose für sich annehmen. Mein Dienst war eigentlich um 00:00 Uhr beendet, aber wir sprachen bis 00:20 Uhr.
Panikattacken können in Verbindung mit einer Agoraphobie auftreten. Diese hat nichts mit der Klaustrophobie zu tun, die eine spezifische Phobie (s.u.) ist. Stattdessen ist die Agoraphobie die Angst vor bestimmten Situationen oder Reisen, vor weiten Plätzen oder Menschenansammlungen. Also vor Situationen, aus denen man keine Möglichkeit zur Flucht sieht oder bei denen man auf größere Menschenansammlungen trifft. Sie hat an dieser Stelle auch eine gemeinsame Schnittmenge mit den Sozialphobien. In diesen Situationen stellt sich Panik ein und folglich werden sie fortan gemieden. Selten wird auch das Synonym „Multiple Situationsphobie“ genannt, was ich sehr erklärend finde.
Im Kontrast zu diesen attackenartigen Angstzuständen erleben die Betroffenen bei einer generalisierten Angststörung frei flottierende Sorgen: Die Ängste sind nicht greifbar, aber umfassend und nicht an eine bestimmte Situation gebunden. Sie haben keinen Fokus, sondern betreffen das gesamte Leben und unterschiedlichste Situationen.
Panikattacken treten eher nicht auf, sondern die Symptome sind in abgeschwächter Form dauerhaft vorhanden: Herzklopfen, Schwindel, Zittern, ein Kloßgefühl im Hals, Muskelverspannungen und schwitzige Hände. Die Betroffenen berichten von einer ständigen Anspannung, erleben sich als übervorsichtig. Auch hier führt die Angst wieder zu einem Vermeidungsverhalten, was die Symptomatik verstärkt. Auch hier sind Frauen häufiger betroffen, die Angststörung kann im Alter bestehen blieben.
Eine Sozialphobie zeichnet sich durch eine extreme Unsicherheit im Kontakt mit anderen Menschen aus. Wann immer ein Mensch sich einer Situation aussetzen muss, in der er sich bewertet oder beobachtet fühlt, kommt es zu Erröten, Zittern und zu vegetativer Symptomatik wie Toilettendrang oder Erbrechen. Die Betroffenen meiden Situationen, in denen sie mit größeren Menschenmengen konfrontiert sind, gehen seltener aus dem Haus. Eher jüngere Menschen leiden unter der sozialen Phobie, die sich häufig im höheren Alter bessert.
Spezifische Phobien sind Ängste, die auf ein bestimmtes Objekt oder einen Zustand betreffen. Hier mischt sie sich häufig auch mit einer Sozialphobie, wenn Betroffene nicht mehr zum Einkaufen gehen können, weil sie sich nicht in den Supermarkt trauen.
Der Klassiker einer spezifischen Phobie ist die Spinnenphobie. Sie beeinträchtigt jedoch im Gegensatz zu den o.g. Ängsten den Alltag eher weniger. Eine Höhenangst beispielweise ist beim Urlaub in den Bergen sicherlich hinderlich, zu Hause stellt es die Patienten vor keine besonderen Herausforderungen. Der Leidensdruck wächst, je größer der Alltagsbezug ist.
Angst vor Hunden (Kynophobie) kann für Dorfbewohner schwierig werden – oft gibt es mehr Hunde als Einwohner in ländlichen Gegenden. Angst vor dunklen Räumen (Achluophobie) oder vor dem Urinieren auf öffentlichen Toiletten (Paruresis) lässt die Menschen sehr leiden. Eine Dame, die ich kenne, hat eine ausgeprägte Angst vor Regenwürmern, was bei der Gartenarbeit sehr hinderlich ist. (Den Fachbegriff für eine Regenwurm-Phobie kenne ich leider nicht.) Gutes Zureden und Ermahnen, dass die Angst unnötig sei, hilft nicht, sondern sorgt eher für Scham.
Die WHO teilt Ängste nach ICD-10 in Phobische Störungen (F40) und Angststörungen (F41) ein, wobei zu den Phobien die Agoraphobie, die soziale Phobie, spezifische Phobien und sonstige phobische Störungen gehören. Und zu den Angsterkrankungen die Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst), die generalisierte Angststörung und die Angst und Depression gemischt.
Oft kommt es zu begleitender Depression, zu Schlafstörungen, zu Missbrauch von betäubenden Substanzen oder zu Somatisierungen: Magenschmerzen, Kopfschmerzen und andere psychosomatische Beschwerden mischen schließlich auch noch mit. Die Psyche drückt sich manchmal in der Physis aus.
Die Therapie sollte in einer psychotherapeutischen Behandlung bestehen. Rein medikamentöse Ansätze ohne Verhaltenstherapie sind nicht zielführend, können aber die Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken.
Auf die Behandlung im Detail möchte ich hier nicht eingehen, aber eine Erfahrung schildern: Wenn Patienten sehr unter ihren Ängsten leiden, kann es hilfreich sein, Ihnen eine „Notfalltablette“ für den Geldbeutel zu geben. Die Betroffenen wissen dann, dass sie im Falle einer Panikattacke eine Gegenmaßnahme dabei haben, was schon einen beruhigenden Effekt hat, auch ohne diese Tablette einzunehmen. Oft fristet diese Tablette für immer ihr Dasein in der Geldbörse, weil ihre bloße Anwesenheit den Menschen Sicherheit gibt.
Um wieder auf die aktuelle Lage zurückzukommen: Selbst mit vielen erlernten Bewältigungsstrategien ist es manchmal schwierig, sich der Flut an Meldungen, die gerade über Corona/Covid-19 über uns hereinbrechen, zu entziehen und optimistisch zu bleiben. (Einschub: Ich wollte ursprünglich schreiben, wir mögen alle positiv bleiben, aber so krass gut wäre das bei Covid-19 ja auch wieder nicht. Man verzeihe mir meinen Galgenhumor. Er verlässt mich nie.)
Ich versuche, die Zahlen im Zusammenhang zu sehen und mir aus seriösen Quellen möglichst solides Wissen über das Thema anzueignen, um Fake News zu entgehen. Gleichzeitig aber auch, viel weniger online zu sein.
Ich versuche mir zu überlegen, dass man nicht für ein halbes Jahr die Schule schließen und uns alle wegsperren kann. Ich versuche mir zu sagen, dass man über Telefon und Videochat in Verbindung bleiben kann. Damit man irgendwie diese Zeit überbrückt. Und dass wir da irgendwie alle zusammenhalten müssen.
Wir haben lange, lange Zeit keine Katastrophen erlebt (Gott sei Dank!) und klammern uns an unsere gewohnten Freiheiten. Der Mensch ist auch ein Gewohnheitstier und wir werden Zeit brauchen, um uns daran an den jetzigen Zustand zu gewöhnen. Und danach gehen wir hoffentlich gestärkt aus der Krise hervor, mit gestärktem Gemeinschaftssinn und dem Gefühl, das Leben wieder genießen zu können.
Daher bin ich auch sehr kritisch, wenn junge Menschengruppen massiv beschimpft werden, weil sie sich treffen. Ja, sie sollen es sein lassen. Und ja, das muss uns allen klar sein. Aber: Jetzt mit Hass und Hetze gerade auf junge Menschen loszugehen, ist kontraproduktiv, weil es Trotz fördert. Teenagergehirne sind darauf programmiert, sich von uns „Älteren“ (älter = über 29 Jahre alt) abzugrenzen und sich in ihren Gruppen zu treffen. Waren wir anders? Hätten wir unsere Leute nicht auch schmerzlich vermisst? Doch, hätten wir. Erschreckender ist es, wenn wir „richtig“ Erwachsenen nicht auf den Kaffee im Biergarten oder das große Grillfest im Garten mit allen Nachbarn verzichten wollen.
Leider ist ein Festhalten an unseren Gewohnheiten gerade nicht möglich und man muss diese Gruppierungen verhindern. Aber bitte ohne Hass und ohne geschürte Gewalt in sozialen Medien. Und mein Eindruck ist, dass wir uns nun auf dem richtigen Weg befinden und sich mehr und mehr Menschen daran halten.
Wir „Älteren“ brauchen das Sozialgefüge auf anderem Weg. Kleinere Gruppen, unsere Familien, die Kinder. Und wir sind eher in der Lage, Vernunft walten zu lassen als jemand im Teenie-Alter. Ich zum Beispiel brauche immer einen Plan und somit das Gefühl, die Kontrolle über diese Situation zu haben. Wenigstens ein bisschen.
Daher: Raus aus den sozialen Medien. Wir können die Fülle an Informationen nicht mehr verarbeiten und nicht entscheiden, was davon wahr und was falsch ist. Ich lese auch noch zu viel nach, wie ich oben schon berichtete und muss mich oft ermahnen, damit aufzuhören. Selbst unter Experten wechseln die Meinungen beinahe täglich, wie können wir dann mithalten wollen?
Man muss sich dem in gewisser Weise entziehen, auch wenn man selbst eine gewisse Sucht nach neuen Informationen spürt.
Mannigfaltige Beschäftigung suchen: Wer einen Garten hat, ist klar im Vorteil. Man kann aber auch den Balkon aufräumen, Kräuter einpflanzen, den Keller ausmisten, den verhassten Frühjahrsputz machen, eine Fremdsprache lernen. Alles in allem also Dinge erledigen, die liegen geblieben sind, oder einfach mal die Bücher lesen, die noch eingeschweißt im Regal schlummern. Tag für Tag leben und nicht im Minutentakt die Nachrichten checken. Selbstschutz nennt man das.
Sich an die Vorgaben halten: Denn wenn wir etwas tun und sei es nur Händewaschen und im Haus und auf dem Hof bleiben, dann haben wir das Gefühl, unseren Beitrag geleistet zu haben. Und man kann anderen helfen, indem man Einkäufe für sie erledigt (und mit Abstand vor der Haustüre deponiert), via Video Bücher vorliest, andere aufmuntert.
Sich selbst Gutes tun: Leckeres Essen, Skypen mit einem Glas Wein, Bücher lesen, in die Badewanne, (alleine) Sport machen, sich einen kleinen Wunsch erfüllen. Das alles kann helfen, der Situation auch angenehme Seiten abzusprechen.
Kontakt zu Freunden halten, jenseits der persönlichen Begegnung. Essenziell. Wichtig.
Diese Zeit macht allen Angst und stellt insbesondere Angstpatienten vor große Herausforderungen. Wir sollten nicht alleine bleiben, sondern uns im Rahmen unserer Möglichkeiten vernetzen und Hilfe anbieten. Aktiv werden gegen die Angst, damit wir die Kontrolle nicht verlieren. Zusammenhalten. Solidarität zeigen. Und darauf hoffen und freuen, dass in ein paar Monaten die Normalität zurückkehrt und dann sogar Teenager gerne zur Schule gehen. Oder der nervige Nachbar endlich wieder seine Pöbelein über den Gartenzaun spuckt. Ganz ohne Mundschutz. Das wird so schön.
Bildquelle: Dil, unsplash