BEST OF BLOGS | Der junge Mann in meiner Sprechstunde wirkt gesund. Muskelbepackt steht er mitten im Leben, aber sein Herz macht ihm zu schaffen. Im Anamnesegespräch wird mir klar: Da klopft die Psyche an.
Ist euch mal aufgefallen, dass viele Menschen das Wort „Psyche“ oder „psychisch“ nicht aussprechen können? Sie sagen „Tsyche“ und „tsychisch“. Und Probleme mit der Tsyche haben ganz schön viele Patienten in der Allgemeinmedizin.
Als ich anfing, als Hausärztin zu arbeiten, wollte ich nicht glauben, dass etwa zwei Drittel aller Patientenbesuche psychosomatischen Hintergrund haben. Aber schon nach ganz kurzer Zeit konnte ich die Aussage bestätigen.
Es geht nicht unbedingt um schwere psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Zwänge. Das kommt auch nicht selten vor, auch wenn die wenigsten Menschen mit ihrem Umfeld darüber sprechen. Die Angst vor Stigmatisierung ist leider oft immer noch zu groß.
Viel verbreiteter sind unerklärliche Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Schlafstörungen, die durch Stress, Anspannung oder Probleme im häuslichen und privaten Umfeld entstehen. Denn irgendwann sagt die Tsyche: „Hallo. Da bin ich. Wollte mich nur mal vorstellen …“
Da war zum Beispiel mal dieser junge Mann, der irgendwann in meine Sprechstunde kam. Muskelbepackt und mitten im Leben stehend, aber immer wieder Herzrhythmusstörungen. Gerade eben ganz schlimm. Kardiologisch war er vor Kurzem bereits untersucht worden, konnte ich herausfinden. Das EKG, das wir anfertigten, war unauffällig. Seine eigene Beschreibung klang nach Panikattacke: Herzklopfen, Zittern, Kribbeln in den Händen.
Also frage ich vorsichtig nach:
„Stress?“
„Nö, eigentlich nicht. Alles gut Zuhause, mit den Kindern und dem Job. Der Hausbau ist so ein bisschen belastend, aber ich arbeite ja Nachtschicht, hab also eigentlich genug Zeit.“
„…“
Und ich denke mir: Joa, is klar. Alles easy. Nachtschicht, Kinder, Hausbau? Vielleicht ist das doch ein bisschen zu viel des Guten.
Ich frage ihn, was er beruflich macht und wir unterhalten uns über seine Nachtschichten. Eigentlich sei ja alles gar nicht so schlimm. Ja gut, manchmal sei er müde. Und sein Training schlauche ihn. Aber als Sportler könne er sich keine Trainingsausfälle leisten.
Zack, ein weiterer Punkt auf der Liste: Nachtschicht, Kinder, Hausbau, Leistungsdruck als Sportler. Da kann jeder normale Mensch Probleme mit der Tsyche bekommen.
Die Sprechstunde ist gleich zu Ende und ich kann mir ein bisschen Zeit nehmen. Ich kläre ihn über die Harmlosigkeit seines Herzstolperns auf, wir reden über Panikattacken und seine multiplen Belastungen.
Am Ende geht ein sichtlich beruhigter junger Mann nach Hause, zurück in sein überfülltes Leben. Seine Rhythmusstörungen werden durch unser Gespräch nicht verschwinden. Aber vielleicht hilft es ihm, sie nun besser einzuordnen.
Schade, dass sprechende Medizin in unserem aktuellen Gesundheitssystem nicht wertgeschätzt wird. Schade, dass man viel zu wenig Zeit hat, mehr zu reden und sich um seine Patienten zu kümmern. Schade, dass Patienten zum Heilpraktiker gehen, weil der sich Zeit nimmt (und sich für 80 € pro Stunde sein offenes Ohr vergolden lässt).
Ich will keine 80€ von dem jungen Mann haben. Ich will, dass er beruhigt nach Hause geht und ich nach dem Gespräch nicht verzweifelt auf meine Wartezimmerliste schauen muss, weil ich 10 Minuten zu lange geredet habe.
Und ich wünsche mir, dass die Bedeutung der Psyche ernst genommen wird. Dann würde man dem Patienten und dem System viel apparative Medizin ersparen.
Bildquelle: Randy Fath, Unsplash