BEST OF BLOGS | „Du wirst erstaunt sein, wie leicht es ist, eine bessere Beziehung zum Menschen auf der anderen Seite der Bettkante aufzubauen.“ Für unsere Bloggerin trennt sich bei Ärzten im Umgang mit Patienten die Spreu vom Weizen.
In meinem letzten Beitrag habe ich Arztbegegnungen beschrieben, die – diplomatisch formuliert – nicht besonders erfreulich waren. Zumindest nicht für mich. Hier soll es nun um die Begegnungen der anderen Art gehen, also um die Good Docs. Damit sind Ärzte gemeint, die einfühlsam waren, mir Mut gemacht und Kraft gegeben haben. Ohne die ich es nicht geschafft hätte, meine Krankheit zu überleben.
Zu diesem Aspekt hatte ich eine private Diskussion mit einem langjährigen Freund, ich nenne ihn mal Anton, der selbst Oberarzt im süddeutschen Raum ist. Er war der Ansicht, dass ihm oft die Zeit fehle, sich den Patienten in angemessener, einfühlsamer Form zu nähern. Ich habe ihm gleich erläutert, dass ich dazu eine sehr klare Meinung habe und das völlig anders sehe. Es geht doch vielmehr um die Wahrnehmung und den Respekt gegenüber dem anderen, dem kranken Menschen. Denn meist sind es die kleinen Gesten oder einfach einfühlsame Formulierungen, die den Unterschied machen. Der Faktor Zeit spielt dabei eine untergeordnete Rolle.
„Denn sei doch mal ehrlich“, entgegnete ich ihm, „wo ist in den konkreten Handlungsoptionen ein großes Zeitgefälle: Du wünschst dem Patienten mit verschränkten Armen vor der Brust ‚Gute Besserung‘ oder du legst kurz deine Hand auf den Unterarm des Patienten und sprichst genau denselben Satz?“ „Ach“, meinte er, „die Patienten fordern doch viel mehr.“ Ich darauf: „Du wirst erstaunt sein, wie leicht es ist, eine bessere Beziehung zum Menschen auf der anderen Seite der Bettkante aufzubauen. Du musst es eben auch wollen.“
Die Argumente wogten hin und her, bis sich ein anderer Freund, nennen wir ihn Karl, in unsere Diskussion einschaltete – ebenfalls Mediziner und passenderweise Onkologe – und mir beipflichtete: „Ja, Anton, es kommt eben auch darauf an, was du erreichen möchtest. Du bekommst sicher mehr wertvolle Informationen, wenn du dich dem Patienten etwas mehr zuwendest, das kann ich zumindest aus meiner Erfahrung berichten.“ Ich zog mich irgendwann aus der Unterhaltung zurück, während Anton und Karl noch munter weiter diskutierten.
Diese kleine private Episode zeigt wunderbar die unterschiedlichen Philosophien und Herangehensweisen. Für mein Empfinden trennt sich hier die Spreu vom Weizen, wie man so schön sagt. Denn natürlich war ich ganz bei Karl und kann nur jedem medizinisch tätigen Menschen zurufen: Nähert euch mit Mitgefühl (nicht mit Mitleid!) und hört auch mal genauer hin. Was das ausmacht, werdet ihr sicher schnell erfahren.
Jetzt und hier geht es mir um konkrete Beispiele für Menschlichkeit in Weiß, sozusagen. Lest selbst.
Beginnen möchte ich mit einem Arzt, der mir über die inzwischen vier Jahre meiner Krebstherapie sehr ans Herz gewachsen ist. Ja, auch so etwas gibt es. Als wir uns das erste Mal begegneten, stand ich mit meiner Geschichte noch ganz am Anfang. Alles war neu und überfordernd. Dr. Svenson und ich hatten das Anamnese-Gespräch und er ließ mich haarklein berichten, was alles zu meiner besonderen Krankenvita gehörte. Er fragte immer wieder nach und ließ mich nicht entwischen (denn ich neige nach wie vor dazu, den Dingen durch Flucht in andere Zusammenhänge die Schwere zu nehmen), bevor er sich ein Bild machen konnte. In meiner Erinnerung waren das sicher mehr als 30 Minuten – und das ist viel Zeit im Klinikalltag.
Insgesamt hatte mich zu diesem Zeitpunkt bereits seine ausgeprägte Beharrlichkeit, gepaart mit einem sensiblen Gefühl für die angemessenen Fragen beeindruckt. Im weiteren Verlauf ging es natürlich auch um die Prognose und die künftige Therapie zusammen mit der Aufklärung über die entsprechenden Nebenwirkungen. Also ein ganz sensibles Terrain, vollgepackt mit Informationen, die nur so auf mich einprasselten.
Bis zu einem gewissen Punkt konnte ich ihm folgen, habe hier und da meine Anmerkungen gemacht und Zusammenhänge hinterfragt. Urplötzlich brach ich dann aber zusammen und fing an, fürchterlich zu schluchzen. Ich selbst war ziemlich überrascht von meiner Reaktion, die mich förmlich überrollte. Augenscheinlich war das dann wohl doch zu viel für meine Seele, sie lief einfach über. Das rein sachliche Verständnis ist nun mal das eine, die emotionale Überforderung das andere.
Erschrocken sah mich Dr. Svenson an und entschuldigte sich vielmals bei mir: „Oh, liebe Nella, dann ist es besser, wir machen hier einmal eine Pause. Sie müssen erst mal zur Ruhe kommen. Vertrauen Sie darauf, ich werde Ihnen helfen und Sie begleiten.“ Dabei streichelte er zwar nicht meine Hand, aber sein Blick war so einfühlsam, dass ich mich langsam wieder fasste.
Sehr viel später habe ich ihn gefragt, warum er sich denn damals bei mir so intensiv entschuldigt hatte. Seine Antwort darauf: „Nun, ich bin jetzt schon seit etwa 20 Jahren Arzt und Onkologe, ich hätte sehen müssen, dass bei Ihnen eine Grenze erreicht war. Ich hätte nicht so weit gehen dürfen mit meinen medizinischen Ausführungen. Nicht zu diesem Zeitpunkt.“ Ich war einmal mehr sehr beeindruckt von so viel Selbstreflektion und einer Kritik, die ich so gar nicht geäußert hätte. Ich habe eigentlich erst viel später begriffen, was er genau meinte und wie er seinen Beruf wohl auch definiert. Davor ziehe ich wirklich den Hut, den unsichtbaren.
Schlimm für mich waren und sind immer wieder aufs Neue die bildgebenden diagnostischen Verfahren. Von der Sonografie über das CT oder PET-CT bis hin zum MRT. Die Anspannung ist riesig, die Nerven zum Zerreißen gespannt.
Es war Juni und für mich stand mal wieder eine dieser von mir so gefürchteten Termine auf dem Plan, dieses Mal ein MRT. Abgesehen davon, dass diese Untersuchungsröhre leicht klaustrophobische Impulse auslöste, stand, so die Anordnung an die Radiologen, mein Kopf im Fokus der Untersuchung. Das ist sicher für jeden eine äußerst sensible Stelle und löst eine Menge angsteinflößender Bilder aus, das Kopfkino rattert im wahrsten Sinne des Wortes. Mir war unglaublich flau im Magen.
Kaum in der Röhre, hörte ich die Anweisungen fürs Atmen und Luftanhalten, das mechanische Hämmern und Klopfen. Dieses Setting ist immer wieder surreal, wie in einem Science-Fiction-Film. Ich zog das Programm tapfer durch und wartete auf Scotty, der mich da rausbeamen sollte. Die Untersuchung nahm und nahm kein Ende. Scheinbar wurden immer wieder neue Schnittbilder erstellt. So lang hatte ich das Prozedere nicht in Erinnerung.
Als ich dann endlich aus dem Röhrenlautsprecher die erlösenden, hallenden Worte der Schwester vernahm: „So, Sie haben es geschafft, ich hole Sie jetzt raus“, sackte ich erleichtert zusammen. Kaum draußen gestand sie mir: „Nella, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, wir haben gleich zwei Sektionen untersucht: Kopf und Hals. Sie waren so ruhig und das Ganze hat so gut funktioniert, dass wir Ihnen einen weiteren Termin ersparen wollten.“ „Ach ja?“ Ich war völlig erschöpft, verdattert und gleichzeitig erleichtert.
Noch während ich mich anzog, sah ich den Radiologen um die Ecke flitzen. Der erblickte mich ebenfalls, sprach mich an und meinte: „Sie können mir gleich mal über die Schulter schauen. Allerdings im Schnelldurchlauf. Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie sich Sorgen machen. Aber was ich jetzt schon sehe, begründet diese Sorge nicht. Kommen Sie ruhig mal mit.“ Hei, das war ja ein Ding. Das ist sicher kein Standard, dachte ich bei mir. Hier geht es nicht nach Protokoll.
Eilig folgte ich ihm und wir sahen zusammen auf den Bildschirm. „Ja“, sagte er, „ich kann hier nichts erkennen. Keine Raumforderung. Alles okay.“ Ich fiel ihm um den Hals. Der Stein, der mir da von den Schultern geplumpst war, war immens. Er hatte meine Gedanken gelesen und mir meine Sorgen im Handumdrehen genommen. Es war so großartig, was der Radiologe da gemacht hatte.
Dann sind es natürlich zahlreiche kleine Begebenheiten, die Anspannungen abfedern, nötige Zuversicht geben können. Bei mir war es zum Beispiel die Aussage eines Oberarztes, der damals die Ausgangsdiagnose gestellt hatte und mir zur Entlassung sagte – wohl dabei auch schon ahnte, was auf mich zukommen würde: „Sie können immer wieder vorbeikommen, wenn Sie einen Rat suchen. Unsere Tür steht immer offen für Sie.“
Oder auch diese Situation hier aus der Kategorie „Gleicher Inhalt, gleiches Zeitkontingent, andere Botschaft“: Die Ärztin betrat das Krankenzimmer stellte sich nicht an das Bettende, sondern nahm sich einen Stuhl, setzte sich neben mein Bett und wandte sich mir auf Augenhöhe zu. Durch diese kleine Regieänderung entstand sofort eine ganz andere Nähe und Vertrautheit. Sie stellte im Grunde genau dieselben Fragen wie der Kollege drei Tage zuvor. Das Gesprächsklima war aber ein komplett anderes. Alles keine Zauberei und so einfach. Ein Stuhl – mehr nicht.
Außerdem muss ich unbedingt eine wunderbare Schwester von der Transplantationsstation in Münster erwähnen, die in einer äußerst heiklen Phase (die Durchführung meiner lebensrettenden Stammzelltransplantation stand auf der Kippe) immer wieder in mein Zimmer kam, um mich zu beruhigen, und dies auch schließlich durch den folgenden, eigentlich völlig banalen Satz schaffte: „Bis die Ärzte diese Therapie absagen, fließt noch viel Wasser den Rhein herunter. Bisher haben die Ärzte immer eine Lösung gefunden und ich bin schon über fünfundzwanzig Jahre im Geschäft.“
Auch eine weitere Aussage eines Arztes schwingt immer noch in meinem Herzen nach: „Nella, auch Zeitgewinn kann ein Therapieerfolg sein. Fast alle drei Monate gibt es neue Erkenntnisse, neue Studien. Gerade auf diesem Gebiet (maligne Lymphome) ist die Forschung rasant. Vertrauen Sie!“ Schon beim Schreiben spüre ich, wie sich mein Puls senkt und meine Atmung angenehm ruhig wird. Was Worte bewirken können! Er hätte auch sagen können: „Wir sind am Ende unseres Lateins, wir können jetzt nur noch dafür sorgen, dass die Schmerzen nicht so schlimm werden.“ Hat er aber nicht.
Das waren alles, menschlich gesehen, so wichtige Begegnungen. Aus den Aussagen bastle ich mir heute noch meine persönliche, positive, kleine Firewall, besonders wenn das kleine Deprimännchen aus meinem tiefsten Innern mal wieder meint, sich bemerkbar machen zu müssen und in mein Ohr krabbelt, um mir negative, moralzersetzende Dinge zuzuflüstern.
Ich wünsche jedem Patienten, dass er möglichst viele dieser wertvollen Menschen trifft. Denn denen nehme ich sofort und aus vollen Herzen ab, dass ihr Beruf wirklich Berufung ist. Bitte weiter so, verehrte Damen und Herren Ärzte. Die Dankbarkeit jedes Patienten ist Ihnen gewiss und für uns ist ihr Engagement echte – unbezahlbare – Medizin, ganz ohne Nebenwirkungen. MERCI.
Das meint übrigens auch Dr. Christopher Dedner und formuliert das hier in dem Beitrag „Warum wir mehr klinische Empathie brauchen“ sehr treffend. Mein Lesetipp für euch.
Alle Namen sind frei erfunden, die Personen dahinter nicht.
Dieser Beitrag gehört zu dem Blog „Zellenkarussell. Mit der Krankheit dreht sich das Leben plötzlich schneller“.
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