Eine Geste oder ein unbedachtes Wort eines Arztes kann schwer ins Gewicht fallen. Ich als Krebspatientin habe leider schon viele solcher Situationen erlebt.
„Bekommt der gerade mit, was er in mir auslöst?“ Oft habe ich mir während meiner Erkrankung und den damit verbundenen Begegnungen mit Ärzten überlegt: Wie kann man Ärzten vermitteln, wie manche Äußerungen, Gesten und Verhaltensweisen bei den (Krebs-) Patienten ankommen? Ahnen sie, was unbedachte, nebenbei gemachte Aussagen auslösen können? Können sie sich vorstellen, welche Ängste und ohnmächtigen Gefühle teilweise wie Blei auf den Betroffenen lasten, ihnen das Herz schwer machen, die Luft zum Atmen nehmen? Und schließlich: Wer hilft wiederum ihnen, Patienten zu „lesen“, besser einschätzen zu können? Wollen sie das überhaupt?
Um mit der letzten Frage anzufangen: Ja, ganz ohne jeden Zweifel. Alle, wirklich alle wollen natürlich nur das Beste für „ihren“ Patienten. Und die meisten haben es einfach bewundernswert drauf, begegnen einem (trotz Stress und trotz aller Schwere) mit Einfühlungsvermögen und Empathie. Einige wenige können es aber nicht und von denen soll hier die Rede sein.
Um dem Thema Einfühlungsvermögen auf die Spur zu kommen, habe ich dazu mal ein ausführliches Gespräch mit einem Doc geführt. Er hatte ein offenes Ohr für diese Thematik, da sie ihn ebenso beschäftigte wie mich. Er berichtete mir von Seminaren und Workshops mit Schauspielern, die im Studium angeboten werden. Hier werden Szenen aus dem medizinischen Alltag nachgespielt, auf die die angehenden Ärzte dann entsprechend reagieren müssen – medizinisch wie menschlich. Im Anschluss werden diese Situationen dann besprochen und von einem Psychologen bespiegelt.
Allerdings sind diese Seminare und Workshops nicht fester Bestandteil der Ausbildung, sondern meist freiwillig. Nach dem Studium gerät dieses Thema dann oft noch mehr ins Hintertreffen. Keine Zeit. Keine passenden Angebote. Oder es gibt schlicht keine Fortbildungspunkte. Das ist sehr schade.
Würde man diese Inhalte fest ins Studium integrieren, wäre das für beide Seiten auf lange Sicht eine Win-Win-Situation. Denn eigentlich sollte es doch auch im Sinne der werdenden Ärzte sein, eine bessere Beziehung zum Patienten aufzubauen. Man kann nicht nur von Compliance reden, man muss auch konkret lernen, wie man sie umsetzt. Und am besten schon zu Anfang der Karriere und nicht erst am Ende, wenn selbst die härtesten „Knochen“ weich werden.
Im Zuge dieses Gesprächs entwickelte sich die Idee, daraus doch ein Format zu machen. Sozusagen im Tandem. Leider ist es bei einer Idee geblieben, da dem Doc eingeredet wurde: „Ach, da kommen ja eh nur die, die sowieso schon interessiert sind.“
Ich gebe diesen Gedanken trotzdem noch nicht auf, denn wenn Ärzte mitbekommen, wie sie selbst davon profitieren, mehr vom Patienten erfahren und ehrliches, sogar positives Feedback bekommen, kann das doch eigentlich nur gut sein. Das hat doch etwas sehr Befriedigendes – oder? Und den Patienten tut es gut, hilft bei der Genesung. Davon bin ich fest überzeugt.
Um zu verstehen, was ich genau meine, möchte ich gleich einige Beispiel aus meinem persönlichen Erleben aufzeigen. Es sind komischerweise die berühmten „kleinen Situationen“, die aufstoßen. Denn kommt es zu einem Gespräch zwischen Arzt und Patient, ist es für den Arzt der Alltag, für den Patienten aber oftmals – überspitzt gesagt – wie die Verkündung des Evangeliums.
Gerade Krebspatienten schalten bei Besprechungen mit dem Doc alle Sinne auf Empfang, da können selbst Randbemerkungen, kleine Gesten oder hochgezogene Augenbrauen auf einmal ganz groß werden und schwer ins Gewicht fallen. Und auch mal missgedeutet werden, obwohl sie eigentlich ganz anders „abgeschickt“ wurden. Genau hier ist Fingerspitzengefühl gefragt.
Kommen wir zu den Beispielen: Kurz vor Weihnachten, also wirklich kurz vorher, es war der 22.12., musste ich wegen extremer Rückenschmerzen nach einer Aufbauspritze ins Krankenhaus am Ort unseres Feriendomizils an der Ostsee. Für die nötige Kontrolle hatte ich schon vorher mit dem Krankenhaus Kontakt aufgenommen und mich für unabdingbare Blutentnahmetermine angemeldet – ohne diese Adresse im Gepäck hätte mich mein Arzt in Berlin gar nicht erst verreisen lassen.
Nun saß ich aber noch weinend auf dem Bett, solche Schmerzen hatte ich noch nie zuvor kennengelernt. Nachdem ich eine reichliche Portion Morphium bekommen hatte, fühlte ich mich leicht. Ich war komplett tiefenentspannt. Blöd nur, dass meine Ohren noch sehr gut funktionierten und auf Empfang waren, denn vor der weit geöffneten Tür hörte ich den diensthabenden Arzt laut den folgenden Satz sagen: „Ist denn bei dieser Patientin aus Berlin auf Pankreaskarzinom untersucht worden?“ Um meine aufsteigende Panik komplett zu machen, schob er noch hinterher: „Das kann man aus meiner Sicht nicht völlig ausschließen.“
Mir schoss das Blut in den Kopf, ich hörte nur noch ein Rauschen in den Ohren, mir wurde extrem heiß und schlecht. Es war kaum auszuhalten. Selbst bei meiner Erstdiagnose (Non-Hodgkin-Lymphom) hatte ich nicht so eine Todesangst gehabt wie jetzt. Ich wusste sehr genau, was das bedeuten würde, eine gute Freundin war vor fünf Jahren daran verstorben. Ich rief sofort meinen Mann an. Er erzählte mir später, auf der Fahrt zum Krankenhaus allein darin Trost gefunden zu haben, dass ich ja nicht sofort ableben würde, sondern bestimmt noch zwei, drei Monate hätte.
Unter Tränen rief ich danach die Onko-Hotline meines niedergelassenen Arztes in Berlin an und berichtete ihm von dem Gespräch vor der Tür. Er war entsetzt und verlangte sofort nach dem Arzt, der diese Annahme so unpassend, ungeschickt und vor allem für mich hörbar formuliert hatte. „Machen Sie sich keine Sorgen, liebe Nella, das stimmt einfach nicht. Das zu behaupten, ist unverantwortlich. Gut, dass Sie mich angerufen haben.“
Er war fassungslos und rief sofort den Kollegen an. Besagter Arzt betrat nie wieder mein Zimmer, ein anderer übernahm. Ich konnte nach 36 Stunden wieder an meinen Urlaubsort zurück. Aber noch heute schüttelt es mich, wenn ich daran zurückdenke. Noch einmal: Natürlich muss ein Arzt alle Möglichkeiten auf seinem Radarschirm haben, das ist sein Job. Aber er sollte daran denken, dass Patienten nicht alles mitbekommen sollten, schon gar nicht solche aussichtslosen Einschätzungen.
Ich hatte meinen fünften Chemo-Zyklus gerade hinter mir und lag sehr schwach im häuslichen Bett. Mir wurde heiß und das Fieberthermometer zeigte bedrohliche 39 Grad an. Es war 22 Uhr. Schließlich wurde mir speiübel und der Weg zum Bad wurde im Sprint zurückgelegt. Wenn diese Situation eintritt, lautete die eindeutige Instruktion des leitenden Oberarztes an mich: Sofort auf der Onko-Station anrufen, liebe Nella, damit die sich mit der Notaufnahme in Verbindung setzen können und auch gleich ein Bett auf der Station für sie auftreiben. Sie müssen dann sofort ins Krankenhaus.
Okay, gesagt, getan. Den Notarztwagen hatte ich auch schon angefunkt. Dann der Anruf auf der Station. Zu hören war eine harsche, genervte Stimme: „Ja, hier die Onko-Station, Dr. Viktoria Weiß (Assistenzärztin, Name geändert), was ist los?“ Ich schilderte ihr den Fall und fragte, ob sie schon mal nach einem freien Bett fragen könne. Ihre mitfühlende Antwort lautete: „Wie stellen sie sich das denn vor? Wir sind doch kein Hotel!“
Kleinlaut berichtete ich ihr, dass das der empfohlene Weg des leitenden Oberarztes war und ich noch seine Worte im Ohr habe, „damit das auch alles Hand in Hand geht. Speziell bei Ihnen müssen wir sehr umsichtig handeln. Sagen Sie das ruhig auch so an.“ Aber das hörte die Ärztin gar nicht mehr. Sie hatte bereits aufgelegt.
Ein anderer Kollege besagter Assistenzärztin entschuldigte sich am Morgen darauf ausdrücklich für den unpassenden Spruch seiner Kollegin. Es war ihm äußerst unangenehm. Dass ein Krankenhaus kein Hotel ist, ist selbst mir bewusst. Dieser Vergleich hat einfach nichts im Vokabular von Ärzten zu suchen.
„Der Arzt kommt gleich“, sagte die Schwester und gab mir die Anweisung, meinen Oberkörper für die Sonografie des Bauches frei zu machen. Während ich dann schon da lag und auf den Arzt wartete, hörte ich draußen vor der Tür ein munteres Gegiggel und Gekichere. Beschwingt betrat ein junges Duo in weißen Kitteln den Behandlungsraum. Er Arzt, sie augenscheinlich noch Studentin. Er sagte kurz „Hallo“ in meine Richtung und plauderte weiter lustig mit der jungen Dame. Zack, landete das Gel auf meinem Bauch und der Schallkopf wurde eingetaucht.
Er erklärte ihr, was er gerade sah und machte weiter, während er sie fragt, ob sie nicht gleich zusammen Mittagessen gehen wollten. Dass ich da lag, war beiden völlig egal. Es hätte auch eine Puppe sein können. Ich dachte, ich spinne! Ist das hier „Versteckte Kamera“? Für mich war das eine entscheidende Untersuchung, ein Zwischenscreening, und die beiden turtelten da rum.
Ich sagte: „Entschuldigung, ich störe ja ungern, aber für mich ist das hier eine wichtige Untersuchung. Könnten Sie sich bitte auch mir zuwenden, Herr Doktor.“ Er schaute mich von oben bis unten abschätzig an und wandte sich dann doch, durchaus genervt, mir statt seiner jungen Kollegin zu.
Sie schaute ganz verlegen. Immerhin sie hatte anscheinend verstanden, dass das Ganze nicht besonders professionell war. Ich bin mir sicher, dass das gemeinsame Mittagessen trotzdem ganz nett war, vielleicht ging ja was.
Nach einer heftigen Lungenentzündung, die mit vereinten medizinischen Kräften abgebogen werden konnte, stand die Chefärztin – knallroter Lippenstift, modische Kurzhaarfrisur – mit verschränkten Armen vor der Brust am Fuße meines Bettes und zischte mit versteinerter Miene: „Na, dann wünsche ich Ihnen aber alles Gute.“ Ohje, hatte ich was getan? Kein Lächeln, kein Händedruck, kein aufmunterndes Wort. Kostet alles nichts. Nie habe ich mich verlorener gefühlt.
Nee, falsch, ich ziehe meine Behauptung von eben zurück. Die Krönung bekam ich im Laufe meiner Nachsorge von meinem Onkologen zu hören. „Ach wissen Sie, unterm Strich ist es doch egal, woran man drauf geht. Lymphom oder GvH-D.“ Als ich nachfragte, was er denn damit meine, murmelte er, dass das eben so sei und meinte, der nächste Patient könne jetzt rein.
Ich verließ völlig konsterniert den Raum und habe einige Tage gebraucht, bis ich mich davon erholt hatte. Mein Gegenrezept: Ich schrieb ihm eine geharnischte E-Mail und formulierte meine Ängste und Nöte, die diese Bemerkung bei mir ausgelöst hatten. Immerhin war es ihm unangenehm und er hat sich entschuldigt. Unser Verhältnis hatte sich danach auch erheblich zum Besseren verändert. Er hörte mir genauer zu und achtete auf seine Wortwahl.
Zum Schluss jetzt etwas ganz Spezielles, was Ärzten vielleicht gar nicht so bewusst ist. Ich meine das Kompetenzgerangel am Krankenbett, das ich wirklich sehr häufig erlebt habe. Ein Krankenhaus ist kein Ort der Demokratie, das weiß ich, leitende Ärzte sind da nicht anders als Hotel- oder Zirkusdirektoren. Orientierung und das Verdeutlichen von Kompetenz müssen sein. Aber oft habe ich mich dann wahlweise gefragt ob es (a) eigentlich wirklich um meinen Fall oder vielmehr (b) um Reviermarkierung geht oder (c) – was noch viel schlimmer war – ob die Doctores wissen, was fachlich angesagt ist oder ob das hier das sprichwörtliche Stochern im Trüben ist?
Mein Appell an die Ärzte: Bitte klären sie doch vorher die anstehenden Behandlungsschritte vor der (geschlossenen, siehe oben) Tür oder danach im Ärztezimmer. Auf keinen Fall vor den Patienten. Unsicherheit ist das allerletzte, was man braucht, man trägt sie durch den Tag und durch die Nacht. Und die Schwestern, die man in seiner Hilflosigkeit fragt, können dann natürlich schon gar nichts sagen.
Was haben all diese Fälle gemeinsam? Etwas, um das ich Ärzte nicht beneide: Einerseits müssen sie fachlich top sein, denn allein das rettet Leben oder sorgt für Linderung und Heilung. Und: Sie müssen sich in Menschen hineinversetzen, für die sie in einer sehr schwierigen Phase ihres Lebens so etwas wie der Leuchtturm sind.
Und nach nunmehr vier Jahren intensivster „Zusammenarbeit“ kann ich sagen: Es gibt Ärzte, die es können, und es gibt Ärzte, die in sich gehen sollten. Und dies hat nichts mit Mann/Frau, jung/alt, erfahren/neu im Geschäft oder hervorgehobene/nachgeordnete Position zu tun. Um positiv zu schließen: Ich bin all denen unendlich dankbar, die mir einfühlsam und respektvoll gegenübergetreten sind. Und das war eindeutig die Mehrheit.
Dieser Beitrag ist verfasst von Nella, die auf ihrem Blog „Zellenkarussell. Mit der Krankheit dreht sich das Leben plötzlich schneller“ schreibt.
Bildquelle: Luis Villasmil, Unsplash