Ich stelle mir vor, ich müsste ein Kombiarzneimittel entwickeln, mit allem was der Giftschrank zu bieten hat. Ich hätte es genau so gemacht wie die Hersteller dieses grünen Saftes, den es rezeptfrei in der Apotheke zu kaufen gibt.
Stellen Sie sich vor, Sie gehen in die Apotheke und fragen, ob Sie Paracetamol mit Alkohol einnehmen dürfen. Und dann setzen Sie noch einen drauf: Dazu auch noch ein Schlafmittel? Und weil Ihnen der Apotheker fassungslos zuhört, fragen Sie, ob dazu noch ein Aufputschmittel wie Ephedrin mit in den Cocktail darf.
Da der Pharmazeut sprachlos ist, gehen Sie aufs Ganze: Dazu noch ein psychotropes Antitussivum? Alles zusammen? Und dann noch ein Arzneimittel, was in anderen Ländern nur gegen Rezept erhältlich ist und eine sehr, sehr kleine therapeutische Breite hat: Doxylamin.
Das alles klingt wie Satire, ist aber Realität. Der Erkältungssaft, der mit einem Patienten mit Männererkältung und erhöhtem BMI beworben wird („Kannst du Mama anrufen?!“), wurde mehrfach zum Arzneimittel des Jahres gekürt.
„Der Unterschied zwischen einem Arzneistoff und einem Rauschmittel ist oft nicht die Chemie, sondern der Zustand des Anwenders“, so Dr. Heinrich Elsner, Leitender Arzt der Krisenhilfe Bochum, einer Jugend- und Drogenberatung sowie Methadonambulanz bei den Hamburger Suchttherapietagen.
Als „Polytoxikomanie in einem einzigen Medikament“ bezeichnete er Wick® MediNait: „Hier findet sich mit Ephedrin ein Stimulans, mit Dextromethorphan ein Halluzinogen und mit Doxylamin ein sogenannter Downer“, erklärte Elsner. Außerdem ist Paracetamol enthalten, das laut Elsner auch auf das Endocannabinoid-System wirke, sowie Alkohol.
Das Schmerz- und Fiebermittel Paracetamol hat eine kleine therapeutische Breite. Die Interaktionsdatenbank drugs.com bewertet das Risiko von Wechselwirkungen zwischen Arzneimitteln. Die höchste Risikoklasse ist ein rotes „Major“, also schwerwiegend. Genau dieses Attribut erhält die Kombination Paracetamol und Ethanol im „Erkältungssaft für die Nacht“.
Paracetamol wird mit Hilfe von körpereigenem Glutathion entgiftet. Für eine tödliche Intoxikation benötigt man etwa 10 g, also 20 Tabletten innerhalb von 24 Stunden. Bei einer so großen Menge ist der Glutathionvorrat erschöpft und es wird ein toxischer Metabolit gebildet.
Ethanol wird ebenfalls über Glutathion metabolisiert. Er mindert den Anteil der entgiftenden Aminosäure, weshalb Vergiftungen mit Ethanol und Paracetamol besonders schwerwiegend verlaufen. Im Erkältungssaft ist neben dem Schmerzmittel auch 18 Vol-% Ethanol enthalten.
Doxylamin ist ein Antihistamininkum der ersten Generation. Es hilft gegen Allergien, Übelkeit und ist ein potentes Schlafmittel. Seine therapeutische Breite ist kleiner als die der Benzodiazepine Diazepam und Midazolam. Die PRISCUS-Liste warnt unter anderem vor Herzrhythmusstörungen.
Für die Auszeichnung zum Erkältungsmedikament des Jahres 2014 – vergeben vom Bundesverband Deutscher Apotheker (BVDA) – wurden 305 Apotheken befragt. 65 Prozent von ihnen (198 Apotheker) würden Wick® MediNait als Erkältungsmittel empfehlen, weil Kombinationspräparate „sinnvoll beim Vorliegen des gesamten Symptomkomplexes“ seien.
„Ich war entsetzt darüber, dass Apotheker und Apothekerinnen dieses Mittel zum Arzneimittel des Jahres gewählt haben“, kritisiert Prof. Gerd Glaeske. „Apothekerinnen und Apotheker müssen es besser wissen.“ Die Kombination mehrerer Wirkstoffe, die der Körper nicht unbedingt gleichzeitig benötige, könne auch unerwünschte Wirkungen haben und „den Körper insgesamt belasten“.
Zu den Empfehlungen und hohen Verkaufszahlen der Kombinationspräparate trage die massive Werbung der Arzneimittelhersteller bei, erklärt Glaeske. Die Werbung vermittle den Kunden ein Gefühl von Wirksamkeit. „Das ist aber alles ein Fehler, den der Apotheker, die Apothekerin richtig rücken müsste.“ Doch: „Das kostet Informationszeit und das wird oftmals nicht gemacht“, kritisiert er.
Auch Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser, der für das Arznei-Telegramm schreibt, gibt zu bedenken, dass die Werbung für Kombinationspräparate zur besten Sendezeit nicht nur Kunden, sondern auch Apotheker beeinflusse.
Da der Saft ja gegen alle Erkältungssymptome helfen soll, ist auch das Antitussivum Dextromethorphan (DXM) enthalten. Es greift am NMDA-Rezeptor an, an diesem agiert auch das Narkoanalgetikum Esketamin.
Besorgniserregend ist eine ansteigende Zahl von Berichten über den Missbrauch von Dextromethorphan. Als psychoaktiv wirkende Substanz ist Dextromethorphan hauptsächlich bei jungen Menschen begehrt (DocCheck berichtete). Bei der aktuell verfügbaren Datenlage bleiben allerdings das komplette Ausmaß und die Bedeutung für die Suchtmedizin in Deutschland bislang noch unklar.
Die missbräuchliche Verwendung von DXM-haltigen Arzneimitteln stellt in einigen europäischen Ländern ein Problem dar. Innerhalb von Europa sind DXM-haltige Arzneimittel in den Ländern Griechenland und Bulgarien verschreibungspflichtig. Lettland und die Niederlande informierten die Pharmacovigilance Working Party (PhVWP) des CHMP 2006, dass diesbezüglich Diskussionen in ihren Ländern geführt werden und die Behörden die Situation intensiver untersuchen.
2008 wurde von Schweden der Missbrauch von DXM erneut thematisiert. Im November 2010 informierte Spanien die PhVWP über ein großes Medieninteresse an dem Thema und die Überlegung der spanischen Behörden, DXM-haltige Arzneimittel in Spanien der Rezeptpflicht zu unterstellen.
In den USA untersagen immer mehr Bundesstaaten die Abgabe rezeptfreier Hustenmittel mit dem Wirkstoff Dextromethorphan an Jugendliche unter 18 Jahren. Laut einer Studie des National Institute on Drug Abuse aus dem Jahr 2017 sollen ungefähr 3 Prozent der Teenager in der zwölften Klasse angegeben haben, hohe Dosen Hustenmedikamente zu nehmen.
Bei einer Vergiftung mit DXM sind schwere Verläufe mit Koma, Krämpfen und massivem Blutdruckanstieg möglich, warnt die Schweizer Vergiftungszentrale. Als schwere Komplikationen wurden zudem eine Muskelschädigung und eine Psychose gemeldet. Die Anwendung als Rauschdroge unter Jugendlichen ist verbreitet.
Barrett et al. verglichen die psychotropen Wirkungen von DXM und Psilocybin.
Die Auswirkungen von DXM auf die psychomotorische Leistung, die visuelle Wahrnehmung und das assoziative Lernen lagen im Bereich der Effekte einer mittleren bis hohen Dosis (20 bis 30 mg/70 kg) von Psilocybin.
DXM hatte größere Auswirkungen als alle Psilocybin-Dosen auf das Gleichgewicht, das episodische Gedächtnis, die Reaktionshemmung und die Exekutivkontrolle.
Die Wirkung von DXM und die Anreicherung der Substanz im Gehirn kann massiv gesteigert werden, wenn in den Metabolismus eingegriffen wird. Grapefruitsaft beeinflusst nachweislich die Pharmakokinetik einer großen Anzahl von Medikamenten, im Wesentlichen durch Hemmung von Effluxtransportern und CYP3A4-Monooxygenase im Dünndarm und CYP2D6.
In einer Studie von Strauch et al. wurde nachgewiesen, dass bereits ein Glas Grapefruitsaft den DXM-Spiegel erheblich ansteigen lässt.
Auch Tonic Water und DXM sind eine tückische Kombination. Das enthaltene Chinin steigert die cerebrale Plasmakonzentration erheblich. In Userforen im Netz wird diese Mischung als Ersatzdroge propagiert. Demnach darf auch der Erkältungssaft nicht mit chininhaltigen Arznei- und Lebensmitteln eingenommen werden. Beide Interaktionen sind in der Packungsbeilage nicht erwähnt.
Ephedrin und seine Derivate wirken als Dekongestiva. Sie lassen die Schleimhäute abschwellen und verbessern die Nasenatmung. Diese Eigenschaften machen sie grundsätzlich zu sinnvollen Erkältungsmitteln. In zahlreichen anderen Erkältungsmitteln ist Pseudoephedrin enthalten, Ephedrin im grünen Erkältungssaft ist vier Mal so potent.
Fraglich ist die Kombination mit anderen psychotropen Substanzen wie DXM.
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen stuft Ephedrin als Suchtmittel ein. Sie warnt vor Unruhe, Herzrasen, Schwitzen, Zittern und Schlaflosigkeit. In höheren Dosierungen können Verwirrtheit, Halluzinationen, aber auch Atemschwierigkeiten auftreten.
Um es deutlich herauszustellen: Eine übliche Dosierung des Erkältungssaftes für die Nacht ist für die meisten Patienten risikofrei. Das macht das Mischarzneimittel dennoch nicht zu einem sinnvollen Medikament. Kritisch wird es bei einer Überdosierung oder beim Missbrauch.
Die Leitlinie Rhinosinusitis empfiehlt bei Erkältungen die Kombination von einem Analgetikum und einem Dekongestivum sowie Nasenspülungen mit Kochsalz.
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