Patienten sollen schneller drankommen und Ärzte mehr Geld bekommen. So steht es im TSVG. Ich habe mal nachgerechnet: Meine Praxis hat von diesem Gesetz pro Quartal garantiert nicht mehr als 50 Euro.
Seit Mai gilt in Deutschland das „TSVG“ – das „Terminservice- und Versorgungsgesetz“. Für mich als Landärztin gelten viele Änderungen erst seit dem 1. September. Was hat sich seitdem für mich in der Praxis verändert? Als Hausärztin muss ich jetzt 25 Stunden Sprechzeiten anbieten. Das ist bei uns in der Praxis nicht das große Problem, aufgrund der Patientenmenge haben wir solche Zeiten auch vorher schon angeboten. Trotzdem: Ich sehe diese Verpflichtung mit gemischten Gefühlen.
Das liegt unter anderem daran, dass mein Chef in den nächsten Jahren in Rente gehen wird. Momentan macht er nämlich einen Großteil der Hausbesuche, die bei uns allein aufgrund der Strecken viel Zeit in Anspruch nehmen. Diese Hausbesuche sollen laut TSVG eigentlich berücksichtigt werden, aber ich sehe das kritisch: Wenn wir die Termine vereinbaren, wissen wir ja noch nicht genau, was an Hausbesuchen anfällt. Und ich kann nicht andauernd die Sprechzeiten ändern, sondern muss einen gewissen Rahmen auch auf der Homepage angeben.
Unsere Erfahrung ist aber: Obwohl unsere offene Sprechstunde erst später beginnt, kommen die Patienten trotzdem, sobald jemand in der Praxis ist. Und wenn dann das Wartezimmer schon voll ist, wenn man vom Hausbesuch zurückkommt, steht man direkt unter Druck. Termin hin oder her.
Ein anderer Aspekt, der mir Sorgen macht, ist: Ich hoffe, dass diese 25-h-Regel nicht das Niederlassungs-Problem noch weiter verschärft. Es ist eh schon schwierig genug, neue Kollegen für die Niederlassung als Hausarzt und speziell auf dem Land zu gewinnen. Mit offiziell längeren Arbeitszeiten wird das nicht einfacher.
Der andere Teil des TSVG klingt für uns Ärzte erstmal besser und wird zur Zeit auch in verschiedenen Artikeln unter dem Titel „Mehr Geld für mehr Leistung“ erwähnt bzw. beworben. Es geht darum, dass Haus- und Fachärzte mehr Geld bekommen sollen, wenn Patienten schneller einen Termin bekommen. Also der Facharzt bekommt mehr Geld für den Termin und der Hausarzt, wenn er den Termin vermittelt. Aber nur, wenn der Termin binnen vier Tagen stattfindet. Und der Patient in diesem Quartal noch nicht bei dem Facharzt gewesen ist.
Um das direkt mal klarzustellen: Ja, auch wir haben hier eindeutig das Problem, dass man bei vielen Fachärzten wirklich Monate auf einen Termin warten muss. Der einzige Neurologe vor Ort hat jetzt seinen KV-Sitz verkauft – ca. 60 km weit weg. Der bisher vor Ort tätige Urologe hat immerhin ausgehandelt, dass der Sitz vor Ort bleiben muss, wenn er in Rente ist. Ich hoffe, der Nachfolger hält sich daran. Auch das soll nämlich eine Zweigpraxis werden, deren Stammpraxis ca. 60 km weit weg ist.
Warum ich die Distanz erwähne? Weil wir hier nicht nur ein zeitliches Problem haben, sondern auch die Frage, wie unsere Patienten zu dem jeweiligen Facharzt kommen. Ältere Patienten, die nicht mehr selbst fahren dürfen, werden oft von ihren (berufstätigen) Kindern oder Nachbarn gebracht. Und so etwas zu planen, braucht leider Zeit. Meistens mehr als vier Tage.
Außerdem muss ich gestehen, dass ich diesen Slogan „Mehr Geld für mehr Leistung“ schwierig finde. Erstens habe ich ja schon oben beschrieben, warum diese Leistung für uns Landärzte schwer zu erbringen ist. Weil uns nämlich Zeit und Ressourcen fehlen, diese „Leistung“ regelhaft unterzubringen. Dafür müssen wir einfach zuviele Patienten versorgen.
Die Konditionen für dieses Extra-Geld laut TSVG sind so, dass sie einfach zu selten eintreffen. Deswegen kann ich auch sagen, dass wir von diesem Gesetz pro Quartal garantiert nicht mehr haben werden als maximal 50 Euro. Und das ist schon eine extrem optimistische Schätzung. Realistischer sind 0–20 Euro pro Quartal. Ob das den Aufwand wert ist, lange in der Warteschleife zu hängen?
Wir machen es gewöhnlich so, dass wir den Patienten erstmal einen Zeitrahmen vorgeben, in dem die entsprechenden Untersuchungen laufen sollten. Bei manchen Untersuchungen (z.B. Vorsorge-Koloskopien) sage ich auch direkt, dass es für mich völlig okay ist, wenn es 3–6 Monate dauert. Nur wenn die Patienten in dem von uns vorgegebenen Zeitraum keinen Termin kriegen, sollen sie sich nochmal melden und dann schauen wir, ob und wie wir helfen können. Oder verweisen an die Terminservice-Stellen. So klappt das eigentlich bei den allermeisten Patienten.
Ich frage mich, ob diese Idee des TSVG nicht am eigentlichen Problem des Gesundheitssystems vorbei geht. Meines Erachtens müssten wir uns eher fragen, wie wir die Patienten so organisieren, dass die Spezialisten nur diejenigen sehen (müssen), bei denen die spezialärztliche Expertise wirklich notwendig ist. Wie schon mal beschrieben: Eine Gastroenterologin sollte ihre Zeit nicht mit simplen Ultraschalluntersuchungen des Bauches verbringen, die wir Hausärzte genauso können sollten. Wir Hausärzte sollten schauen, dass wir die Untersuchungen, die wir selbst machen können, auch selbst machen. Aber jetzt kommt der Haken an der Sache: Dafür bräuchten wir Zeit. Und natürlich geht es schneller, eine Überweisung zum Gastroenterologen zu schreiben, als selbst eine gründliche Untersuchung des Bauches vorzunehmen (zwei min vs. ca. 20 min). Wobei diese Untersuchung bei uns oft in den Pauschalen mitvergütet ist und somit zwar ärztliche Ressourcen frisst, aber kein Geld bringt.
Wir müssten außerdem die Möglichkeiten haben, uns irgendwie neben der Praxis auch „auf dem neuesten Stand“ zu halten. Und zwar auch bei den praktischen Untersuchungen, nicht nur mit theoretischen Vorträgen wie etwa den DMP-Vorträgen. Ich finde Ideen wie „peer-learning“ in einer anderen Praxis bzw. Praxishospitationen wie von der DEGAM vorgeschlagen absolut klasse. Mit diesen diagnostischen Fähigkeiten kann man nämlich selbst die notwendigen Informationen sammeln und in den allermeisten Fällen dann auch selbst entscheiden, ob und wann eine weitere Diagnostik und/oder Therapie notwendig ist. Denn wie ein älterer Kollege mir mal sagte: „Man muss sehr viel wissen, um wenig zu tun“.
Was mich zu einem weiteren Punkt bringt: Ist es überhaupt immer sinnvoll, alles ganz schnell abzuklären? Natürlich gibt es Situationen, in denen jede Minute zählt (z.B. Herzinfarkt oder Schlaganfall) und auch andere, in denen man zeitnah eine Abklärung braucht (z.B. Verdacht auf Lungentumor). Aber bei anderen Untersuchungen kann man ruhig erstmal abwarten (z.B. „unspezifischem Kreuzschmerz“ ohne Warnsignale für Entzündung oder bösartige Erkrankung). Im Gegenteil, gerade bei diesen Schmerzen wird oft genug vor einer zu zügigen Bildgebung gewarnt, weil man festgestellt hat, dass man damit die Patienten verunsichert oder ggf. auch somatisiert. (Auszug aus der Leitlinien: „Bei akuten und rezidivierenden Kreuzschmerzen soll ohne relevanten Hinweis auf gefährliche Verläufe oder andere ernstzunehmende Pathologien in Anamnese und körperlicher Untersuchung keine bildgebende Diagnostik durchgeführt werden.“)
Deswegen ja auch der Begriff des „abwartenden Offenhaltens“. Bitte nicht verwechseln: Das ist kein diagnostischer oder therapeutischer Nihilismus, sondern ein sinnvolles Abwägen, welche Erkrankung welche Maßnahme benötigt.
Denn nicht jedes Knie, dass nach einem Sturz schmerzt, braucht sofort ein MRT. Ich habe es oft mitbekommen, dass Patienten initial aus Angst unbedingt ein MRT wollten, aber es dann doch nach 1–2 Wochen so gut war, dass kein MRT nötig war. Ist es also sinnvoll, Ärzte dafür zu belohnen, wenn sie innerhalb von vier Tagen ein MRT anstreben? Das bestätigt, dass da eigentlich gar nichts ist?
Hinzu kommt, dass ich den Verschiebungseffekt fürchte, den wir schon bei Psychotherapeuten gesehen haben: Als dort die Akutsprechstunden verpflichtend wurden, wurde es zwar einfacher, für Neu-Patienten ein Erstgespräch zu organisieren. Andererseits fehlte aber für diejenigen, die schon in Therapie waren und denen es gerade nicht so gut ging, an Zeit. Das heißt, es kam dann dort zu sehr langen Intervallen zwischen den Therapiesitzungen, was auch schon mal zu Krisen führen kann.
Deswegen glaube ich nicht an ein blindes „Mehr Geld für mehr Leistung“. Denn unsere „Leistung“ ist die Gesundheit in der Bevölkerung. Und dabei steht Deutschland im internationalen Vergleich zwar sicherlich nicht schlecht da, gibt aber dafür sehr viel Geld aus. Vielleicht sollten wir mal überlegen, wo das ganze Geld bleibt, anstatt das Hamsterrad immer noch schneller drehen zu wollen. Denn damit ist keinem geholfen. Nicht dem Patienten, nicht dem Arzt, nicht dem Gesundheitssystem.
Bildquelle: Mae Mu, unsplash