Während Gynäkologen, Geburtshelfer und Klinikärzte spekulieren, schaut DocCheck auf die Fakten: Wir fragen eine Medizinstatistikerin zur Wahrscheinlichkeit von Fehlbildungen.
Die Fachwelt ist uneins: Berechtigter Grund zur Hysterie, sagen die einen – erstmal den Ball flach halten, sagen die anderen. Es geht um die drei Babys mit Dysmelien an den Händen, die in einer Klinik in Gelsenkirchen zur Welt kamen. Das Bundesgesundheitsministerium NRW hat an Kliniken Daten zum Fall gesammelt und jetzt erste Ergebnisse vorgelegt.
Von einer Häufung oder Steigerung der Fälle sei nicht auszugehen, aber die erhobenen Daten müssten nun weiter analysiert werden. Denn laut Ministerium seien von den Kliniken Daten zu allgemeinen Handfehlbildungen gemeldet worden, nicht nur zu fehlenden Fingern und Händen. Außerdem habe man Fehlbildungen, die im Rahmen von Syndromen auftreten, ebenfalls einbezogen.
Während Experten weiter über mögliche Ursachen streiten, haben wir eine Medizinstatistikerin gebeten, die Wahrscheinlichkeiten für solche Fehlbildungen einmal durchzurechnen.
Dr. Gerta Rücker, Senior Researcher an der Universität Freiburg, stellt ihrer Analyse eines vorweg: „Ich bin Mathematikerin und Statistikerin und kann deshalb inhaltlich zu dieser Frage nicht Stellung nehmen. Aber auch zu den Zahlen habe ich kaum belastbare Information gefunden.“ Entsprechend vorsichtig bewertet sie die Datenlage zu den Dysmelien.
Rücker legt zwei Zahlen zugrunde. Einen Wert entnimmt sie einem aktuellen Bericht des Ärzteblatts. Dort heißt es, dass in der Hamburger Geburtshilfe mehr als 25.000 Kinder pro Jahr zur Welt kommen, davon bis zu 40 mit Fehlbildungen an den Armen und Händen. „Demnach lautet eine grobe Schätzung (hier für Hamburg, eher überschätzt) 5 Fälle pro 25000 Geburten. Das entspricht einer Wahrscheinlichkeit von 5/25000, gleich 0.0002“, so Rücker.
Der zweite angenommene Wert bezieht sich auf eine in PLOS erschienene Studie. Hier heißt es, die Häufigkeit einer Dysmelie liegt bei etwa 4 Fällen auf 10.000 Geburten. „Dies entspricht einer Wahrscheinlichkeit von 4/10000, gleich 0.0004 – dieser Wert wäre doppelt so hoch“, fasst die Statistikerin zusammen.
Sie hält fest, dass insgesamt eine gewaltige Unsicherheit bestehe, in erster Linie, weil es kein Melderegister gibt. Rücker gibt aber zusätzlich zu bedenken, dass Informationen zur Zahl der Geburten im beobachteten Zeitraum und auch zur Länge eben dieser Zeitspanne fehlten.
Zahlen, wie sie unter anderem in der Bild veröffentlicht wurden, helfen gar nicht weiter, betont Rücker. „Diese absolute Zahl sagt gar nichts, da sie sich offensichtlich auf einen beliebig langen Zeitraum bezieht und daher der Nenner völlig unklar ist, sowohl was die zugrundeliegende Anzahl der Geburten als auch, was den Zeitraum betrifft.“ Auch sei in solchen Berichten unklar, welche Art von Fehlbildung mit dem Begriff „Fall“ genau abgedeckt werde.
Rücker begrüßt die aktuelle Abfrage der Daten in den einzelnen Kliniken. Angesichts der Zahl der Fälle sei das richtig. Auch zur Einführung eines Melderegisters für Fehlbildungen hat sie eine klare Meinung – auf die Frage, ob es ein solches Register geben solle, antwortet sie: „Ja. Nur so lassen sich auf Dauer vergleichbare Daten erfassen, inklusive (Medikamenten- und Umwelt-) Anamnese.“
Folgende Wahrscheinlichkeiten hat Rücker ermittelt:
Für eine Fehlbildung in 100 Geburten: 0.0001954315 (bei Wert 1, 0.0002) und 0.0007716005 (bei Wert 2, 0.0004).
Zwischen zwei Fällen liegen jeweils 5.000 (bei Wert 1) und 2.500 (bei Wert 2) Geburten.
Legt man Wert 1 zugrunde (das Hamburger Szenario), ist ein Abstand von etwa zweieinhalb Monaten zwischen zwei Geburten mit Fehlbildungen zu erwarten.
Für die Gelsenkirchener Klinik mit etwa 800 Geburten pro Jahr hält Rücker für den betroffenen Zeitraum (Juni bis September) fest: „Die Wahrscheinlichkeit von 3 Fehlbildungen innerhalb von 4 Monaten ist 0,00003 Prozent (0,0003 Promille) ist sehr gering. Die Wahrscheinlichkeit von 3 Fehlbildungen, verteilt auf ein ganzes Jahr, ist mit 0,002 Prozent (0,02 Promille) immer noch sehr gering.“
Spekuliert wurde viel. Doch für alle Werte gilt laut Rücker: „Egal, welches Szenario man für richtig hält, erscheint diese Häufung an einer einzigen Klinik recht hoch. Dennoch kann man tatsächlich eine rein zufällige Häufung nicht ausschließen.“ Die Ergebnisse der statistischen Tests seien trotzdem hochsignifikant – im Vergleich zu den Werten aus der Hamburger Geburtsklinik sei die Gelsenkirchener Rate für Fehlbildungen im beobachteten Zeitraum um das 57-fache höher.
Solche Zahlen seien auf jeden Fall ein Alarmsignal. Bei Maßnahmen wie der Etablierung eines Melderegisters gehe es vor allem um Risikominimierung für die Zukunft, so die Statistikerin. Auch der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) verwies in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit eines bundesweiten Registers. Denn Fehlbildungen bei Neugeborenen können sehr unterschiedliche Ursachen haben.
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