Zahnärzte therapieren zu viel und vernachlässigen die Prophylaxe. So lautet der Vorwurf einer Forschergruppe im Lancet. Was sagen Kollegen dazu?
Die Zahnmedizin steckt in einer Krise. Das legen zumindest die Analysen von 13 akademischen und klinischen Forschern nahe, die in einer Lancet-Artikelserie zur Mund- und Zahngesundheit veröffentlicht wurden. 3,5 Milliarden Menschen leiden demnach weltweit an Karies, Parodontose oder malignen Erkrankungen der Mundhöhle. Trotz diverser Bemühungen hat sich an der Zahl der Erkrankten in den letzten Jahren kaum etwas verändert, lautet das Fazit in der Publikation. Zahnärzte würden zu viel behandeln und zu wenig auf Prophylaxe setzen. Was ist an den Anschuldigungen dran?
Die Übersichtsarbeiten zeigen, dass sich die Lage global betrachtet nur bei Heranwachsenden etwas verbessert hat. Zwischen 2010 (9,0 Prozent) und 2015 (7,8 Prozent) ging die Zahl an nicht behandelten kariösen Defekten bei Kindern zurück. Bei Erwachsenen hat sich hingegen kaum etwas getan. Rund 35 Prozent von ihnen benötigten im Jahr 2015 aufgrund von Karies zahnärztliche Hilfe. Im Untersuchungszeitraum ließ sich kein erkennbarer Trend nach unten erkennen. Die Parodontitis-Prävalenz ging in den fünf Jahren nur marginal zurück (11,2 versus 10,8 Prozent). Etwas verringert hat sich der komplette Zahnverlust im Alter (Prävalenz 4,4 versus 2,4 Prozent).
Einer der Autoren, Dr. Richard Watt vom University College London, sieht deshalb gute Gründe, von einer „Krise der Zahnmedizin“ zu sprechen. Er hat mehrere Forderungen: Zum einen müsse der weltweit hohe Zuckerkonsum, eine der Ursachen für die Krise, endlich angegangen werden. Außerdem müsse die Kluft zwischen der Allgemein- und der Zahnmedizin verringert werden. Er stellt sich vor, dass Hausärzte oder Allgemeinmediziner beispielsweise einfache Leistungen zur Prophylaxe von Erkrankungen des Mundraums erbringen, wenn Patienten sowieso schon bei ihnen sind. Finden die Kollegen Auffälligkeiten, folgt die Überweisung zum Zahnarzt. Nicht zuletzt fordert Watt, Prävention stärker als bisher in die zahnmedizinische Ausbildung zu integrieren.
Wie sieht die Situation speziell in Deutschland aus? Umfassende Daten lieferte zuletzt die fünfte deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS V) aus dem Jahr 2016. Sie zeichnet ein sehr differenziertes Bild. Tatsächlich hat sich die Situation bei Kindern deutlich verbessert. Der Anteil der Zwölfjährigen mit kariesfreiem Gebiss hat sich in den Jahren von 1997 mit 41,8 Prozent bis 2014 mit 81,3 Prozent nahezu verdoppelt.
Quelle: DSM V
Bei jüngeren Erwachsenen zwischen 35 und 44 Jahren gibt es deutlich mehr Luft nach oben. Die Gesamtzahl aller kariösen, fehlenden oder gefüllten Zähne pro Gebiss verringerte sich absolut von 16,1 (1997) bzw. 14,6 (2005) auf 11,2 (2014). Eine moderate Parodontitis hatten 53,6 Prozent (2005) versus 43,4 Prozent (2014) aller jüngeren Erwachsenen. Und unter schweren Verlaufsformen litten 17,4 versus 8,2 Prozent.
Dr. Stefan Listl von der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde am Universitätsklinikum Heidelberg ist einer der Co-Autoren der Artikelserie. Er nennt in einem Interview mehrere Defizite für Deutschland: „Es gibt gesellschaftliche Gruppen, die aus verschiedenen Gründen nie den Weg in die Zahnarztpraxis finden und wenn Zahnmedizin erst beim Zahnarzt anfängt, sind diese Gruppen zahnmedizinisch schlicht und ergreifend nicht gut versorgt.“
Aber auch die generelle Versorgungssituation sieht er kritisch: „Im weltweiten Vergleich geben wir in Deutschland pro Kopf und Jahr mehr für zahnmedizinische Behandlungen aus als viele andere Länder. Trotzdem leiden auch hierzulande viele Personen an vermeidbaren Folgen solcher Erkrankungen.“ Das erklärt er mit „finanziellen Anreizen zur Unter-, Über- und Fehlversorgung“. Sein Fazit: „Auch in Deutschland braucht es mehr präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen, die bevölkerungsweit wirksam sind.“
Die DocCheck-Community sieht das allerdings anders. „Heute haben viel mehr Senioren noch eigene Zähne als vor 20 oder 30 Jahren“, schreibt ein Zahnarzt mit Verweis auf Studien. „Hinzu kommt, dass 75 bis 80 Prozent der Zwölfjährigen kariesfrei, also primär gesund sind.“ Dies sei, ergänzt der Kollege, „das Ergebnis mühsamer Arbeit in Gruppen- und Individualprophylaxe“. Er gibt zu bedenken: „Wenn das Loch aber nun mal da ist, muss auch gehandelt werden, da ist nichts mehr mit Prävention.“
Sicher könne man einige Dinge besser machen. Er nennt als Beispiele, keine Snackautomaten in Schulen aufzustellen, dafür aber gesundes Essen anzubieten. „Ich bin der Ansicht, dass die Prophylaxe, also die Aufklärung über gesunde Ernährung und Lebensgewohnheiten, Ächtung von süßen Getränken und Snacks, in Kindergarten und Schule gehört“, erklärt der Zahnarzt. „Zu schreiben, dass sich nichts geändert hat und den Zahnärzten den ‚schwarzen Peter‘ in die Schuhe zu schieben, ist völlig daneben.“
Doch wen trifft eigentlich die Schuld? „Krankenkassen sind mitverantwortlich, wenn nicht hauptverantwortlich“, so ein Naturwissenschaftler auf DocCheck. „Zahnärztliche Prophylaxe, die nachweislich sinnvoll und notwendig ist, wird mehr als stiefmütterlich behandelt, während Homöopathie und Ähnliches ohne Nachweis der Wirksamkeit großzügig bezuschusst werden.“
Auch die von Peres und Watt angesprochenen Defizite bei der Ausbildung teilen Kollegen nicht. „Zahnärzte kriegen genügend Wissen um die Prävention und Prophylaxe – sowohl im Studium als auch später, während der ständigen Fortbildung“, erklärt eine Zahnärztin. „Das Problem sind die Krankenkassen, die lieber tausende Euro für teure Parodontose-Behandlung und Zahnersatz als für die Vorbeugung der Mundkrankheiten bezahlen.“
Sie gibt aber auch Patienten eine gewisse Mitschuld. Viele würden denken, wenn Prophylaxe wichtig und richtig wäre, würde die Kasse sie bezahlen. „Wenn sie es nicht tut, ist das bestimmt nur eine neue Masche der geldgierigen Zahnklempner, den armen Patienten Geld aus der Tasche zu ziehen“, so vermutet sie, denken einige Patienten. Sie selbst investiert viel unbezahlte Zeit in Aufklärungsgespräche.
Eine weitere Zahnärztin bestätigt: „Der Patient erwartet Hilfe vom Arzt. Aber Prophylaxe bedeutet Hilfe zur Selbsthilfe.“ Wer zweimal pro Jahr zur professionellen Zahnreinigung komme, seinen Lebensstil aber nicht ändere, bekomme eben trotzdem Probleme. „Wer den ganzen Tag Zucker um seine Zähne spült, beratungsresistent ist und unzulängliche Mundhygiene betreibt, der wird Karies bekommen.“ Sie selbst muss Patienten ständig erinnern und aufklären. „Gespräche werden in unserem Kassensystem leider nicht ordentlich vergütet.“
Sogar die Bundeszahnärztekammer nahm offiziell zu den Lancet-Artikeln Stellung. „Zusammen mit den skandinavischen Ländern haben wir eine hervorragende und beispielgebende Prävention in Deutschland“, heißt es im Kommentar. „Aber natürlich gibt es noch Lücken, diese kennen wir ganz genau, gehen sie aktiv an und adressieren sie immer wieder an die gesundheitspolitischen Stakeholder – in erster Linie an die Politik – aber auch die Öffentlichkeit, weil nicht alle Risikofaktoren allein von der Zahnmedizin beeinflusst werden können.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
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Bildquelle: Reuben Blake, Unsplash