Teuer und ohne nachgewiesenen Erfolg – Zahnspangen stehen in der Kritik. Der Bundesrechnungshof fordert jetzt, dass der Nutzen von kieferorthopädischen Behandlungen nachgewiesen wird. Wieso gibt es so viele Kinder mit Spange bei so wenig Evidenz?
Zahnspangen sind für Kay Scheller ein rotes Tuch. „In anderen Leistungsbereichen der gesetzlichen Krankenversicherung muss der Nutzen einer Therapie wissenschaftlich bestätigt sein“, so der Präsident des Bundesrechnungshofs. „Das sollte auch bei kieferorthopädischen Behandlungen der Fall sein.“ Sein Haus geht mit diesem zahnmedizinischen Bereich hart ins Gericht, wie eine Prüfmitteilung zeigt. Adressat des Papiers sind der GKV-Spitzenverband und das Bundesministerium für Gesundheit (BMG).
Analysen des Bundesrechnungshofs zufolge geben GKVen jährlich für alle kieferorthopädischen Behandlungen, nicht nur für Zahnspangen, 1,1 Milliarden Euro aus (Stand 2017). Das entspricht knapp acht Prozent aller Ausgaben im Bereich Zahnmedizin. 2005 waren es noch 827 Millionen Euro. Überraschenderweise nahm im untersuchten Zeitraum die Zahl an Patienten zwischen zehn und 20 Jahren ab. Das bedeutet im Umkehrschluss höhere Behandlungskosten pro Person.
„Bei sinkenden Fallzahlen haben sich die Kosten pro Behandlungsfall von 2008 bis 2016 ungefähr verdoppelt. Schätzungsweise über die Hälfte der deutschen Kinder und Jugendlichen befindet sich in kieferorthopädischer Behandlung“, fasst der Bundesrechnungshof im Dokument zusammen. Diese Zahlen sind für Dr. Hans-Jürgen Köning vom Berufsverbands der Deutschen Kieferorthopäden (BDK) „nicht nachvollziehbar“: Der Leistungskatalog der GKVen sei seit 2008 unverändert geblieben. Eine Steigerung der GKV-Ausgaben pro Behandlungsfall könne also nur durch die allgemeine Preisanpassung im Rahmen der Punktwerterhöhung erklärt werden. Diese liege jedoch nur zwischen 17 und 23 Prozent.
Im Gutachten fordern Experten des Bundesrechnungshofs vom BMG, aber auch vom GKV-Spitzenverband, den Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen zu evaluieren. „Wir brauchen belastbare Studien, in denen Notwendigkeit, Wirkungen, Nebenwirkungen und Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich geprüft werden“, bestätigt eine Sprecherin des GKV-Spitzenverbands gegenüber der Welt. Untersuchungen seien teuer und aufwändig, aber unvermeidbar. Köning entgegnet, es gebe sehr wohl ausreichendes Datenmaterial. Quellen nennt er nicht.
Das Thema zog weitere Kreise und landete schließlich beim IGES-Institut, einer Institution, die Gesundheits- und Infrastrukturfragen bearbeitet. Im 144-seitigen Gutachten zur Kieferorthopädie beziehen Wissenschaftler Stellung. Beim Nutzen von Interventionen orientierten sie sich an patientenrelevanten Endpunkten wie Zahnverlust, Zahnlockerung, Karies, Parodontitis und der Lebensqualität in Zusammenhang mit Munderkrankungen.
Bei Literaturrecherchen fanden sich aber kaum geeignete, methodisch hochwertige Studien. Veröffentlichungen belegten zwar, dass Zähne nach kieferorthopädischen Interventionen korrekt stehen – aber ob sich die Mundgesundheit dadurch verbessert, ist aus wissenschaftlicher Sicht offen. Hinzu kommt: Alle eingeschlossenen Studien waren in ihrem Design recht heterogen, was Vergleiche erschwert. Zumindest lieferten vier Arbeiten Hinweise, dass sich die orale Lebensqualität verbessert, heißt es im Gutachten.
„Auch, wenn wir keine Belege für einen Nutzen der Kieferorthopädie bei Zahnfehlstellungen gefunden haben, mag es ihn doch geben“, kommentiert IGES-Studienautor Dr. Holger Gothe. Das jahrelange Erfahrungswissen von Kieferorthopäden stehe in auffälligem Kontrast zum Mangel an Belegen. „Um klarer zu sehen, brauchen wir daher dringend weitere zielführend angelegte Studien.“
Gothe hat aus ethischer Sicht jedoch Bedenken. Randomisierte placebokontrollierte Studien sind der Goldstandard der evidenzbasierten Medizin. Bei kieferorthopädischen Fragestellungen müsste man ein etabliertes Verfahren mit einer Scheinintervention (sham control) vergleichen. Dies bedeute aber, so Gothe, Studienteilnehmern Therapien vorzuenthalten. Um Effekte zu beurteilen, seien außerdem lange Beobachtungszeiten nötig. Der Wissenschaftler fordert, alternative Studienkonzepte zu entwickeln.
Allerdings kann es dauern, bis man von einer zufriedenstellenden Studienlage sprechen kann. Im Zuge der Debatte könnten vermutlich sogar die Kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) ins Wanken geraten. Sie definieren den Schweregrad von Fehlstellungen anhand einer Skala von Grad 1 (leichte Zahnfehlstellungen) bis Grad 5 (stark ausgeprägte Anomalien). Krankenkassen übernehmen Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Fehlstellungen der Schweregrade 3 bis 5.
Genau hier beginnt die nächste Kontroverse. Der „Leitfaden zur kinderärztlichkieferorthopädischen Untersuchung“ rät Pädiatern, Patienten schon im Alter von drei, fünf und sieben Jahren zu screenen und gegebenenfalls zum Zahnarzt zu schicken. In einem offenen Brief moniert Dr. Henning Madsen, Kieferorthopäde aus Mannheim, es gebe keinen Nutzennachweis dieser Untersuchungen. Zumindest bei Fehlstellungen der Schneidezähne bieten frühzeitige Korrekturen keinen Vorteil, bestätigen Forscher der Cochrane Collaboration.
Damit könnte sich ein Trend weiter verschärfen: Schon jetzt müssen dem IGES-Institut zufolge 75 bis 85 Prozent der Versicherten beim Kieferorthopäden selbst in die Tasche greifen. Pro Patient rechnen Kollegen bis zu 1.000 Euro ab. Ob die Leistungen sinnvoll sind, erschließt sich medizinischen Laien nicht. Denn „allgemein verständliche, wissenschaftlich gesicherte Informationen zu Vor- und Nachteilen verschiedener Selbstzahler-Leistungen sind für Versicherte kaum verfügbar“, heißt es seitens des Bundesrechnungshofs.
Jetzt zählt eure Meinung: Werden Zahnspangen vielleicht bald zur reinen IGeL-Leistung? Was würde das für Praxen bedeuten – und was für Patienten? Wir sind gespannt auf eure Kommentare.
Bildquelle: Yingpis Kalayom, unsplash