Kämpfen Ärzte um das Überleben von Patienten, verbannen sie Angehörige schnell in den Wartebereich. Dies ist eine weltweit bekannte Praxis. US-Kollegen machen sich dafür stark, dass die Familie vor Ort bleibt. Warum?
Liegen Patienten auf der Intensivstation, sind oft Eingriffe direkt am Krankenbett erforderlich. Angehörige werden kurzerhand nach draußen geschickt. US-Ärzte stellen die gängige Praxis zunehmend infrage. Mediziner unterschiedlicher Fachrichtungen des Intermountain Medical Centers in Salt Lake City machen sich für eine neue Kultur stark. Sie sagen, es mache Sinn, dass Familienmitglieder vor Ort seien, wenn sich ein geliebter Mensch in einem kritischen Zustand befinde. Dies gelte insbesondere auf der Intensivstation, auch wenn der Patient invasiven Eingriffen unterzogen werde.
Das kennt auch Sarah J. Beesley aus eigener Erfahrung. Die Pneumologin stört sich an dieser Praxis und plädiert für eine „Humanisierung der Intensivpflege“. Dazu gehört auch, Angehörige einzubinden und nicht auszusperren. Nicht alle Kollegen sind begeistert, wie eine beim ATS-Kongress 2019 vorgestellte Befragung zeigt.
Beesley befragte 125 Fachkräfte, die schwerpunktmäßig auf Intensivstationen arbeiten. 84 Personen füllten die Fragebögen aus. Unter ihnen waren 50 Prozent Ärzte und 36 Prozent Pflegekräfte. Am häufigsten erlaubten Ärzte Familienmitgliedern, während Notfallbehandlungen im Zimmer zu bleiben (55 Prozent aller Antworten). Unter den Pflegekräften waren es 29 Prozent.
Diejenigen unter den Befragten, die Angehörige am Krankenbett akzeptierten, bewerteten die Entscheidung auch im Nachhinein meistens positiv (90 Prozent). Wer Angehörige nach draußen schickte, tat dies oft, weil er Bedenken hinsichtlich der Sterilität hatte. Auch rechtliche Bedenken wurden genannt. Nicht zuletzt befürchteten Fachkräfte, von Familienmitgliedern abgelenkt zu werden.
Diese Argumente nennt Beesley zwar, konnte aber nicht bewerten, inwieweit sie der Wahrheit entsprechen oder vielleicht nur vorgeschoben sind. Sie fasst aber zusammen: Sie habe während ihrer Befragung festgestellt, dass bereits einige Intensivmediziner Familienangehörige während der Eingriffe auf die Intensivstation lassen, was großartig sei, da dies wahrscheinlich fast allen zu Gute komme. „Aber es gibt immer noch Bedenken bezüglich dieser Vorgehensweise (...)." Diese wolle sie identifizieren und gezielt ansprechen.
Bei uns wird die Sache ebenfalls kontrovers diskutiert. Das haben Befragungen von DocCheck ergeben. Die Redaktion veröffentlichte kürzlich einen Artikel mit dem Titel: „Raus in den Wartebereich“ und bat Ärzte und Pfleger um Stellungnahme. Befürworter und Gegner des „Platzverweises“ lieferten sich auf unserem Portal einen argumentativen Schlagabtausch.
„Ich finde, dass man die Angehörigen des Betroffenen nicht rausschicken sollte, sondern sie lediglich beruhigen sollte, wenn der Zustand des Kranken sich verschlechtert“, sagt ein MFA. Schließlich sollten Laien sehen, dass man alles Mögliche zur Rettung eines Patienten unternommen habe.
Ein Facharzt für Anästhesiologie bestätigt: „Meines Erachtens ist es sinnvoll und möglicherweise sogar wichtig, dass Angehörige dabei sind, wenn es ‚schwierig‘ wird. Einerseits erfährt der Patient dadurch, dass seine Angehörigen bei ihm sind und der Kampf ums Überleben dadurch sinnvoll ist, andererseits ist es wichtig für Angehörige, zu sehen, dass für ihren bedrohten Angehörigen alles gemacht wird.“
Er sieht – sollten medizinische Bemühungen scheitern – in der Präsenz auch einen Beitrag zur Trauerarbeit. Manche Kollegen teilen diese Sichtweise nicht. „Letztendlich muss jeder behandelnde Arzt und jede Pflegeperson in sich hineinhören und sich die Frage stellen, ob das Rausschicken von Angehörigen in kritischen Situationen nicht möglicherweise durch eigene Unsicherheit bedingt ist“, vermutet der Anästhesist.
Andere Kollegen machen ihre Entscheidung von der jeweiligen Situation abhängig. „Wenn es darum geht, einen Patienten zu reanimieren, dem die letzte Mahlzeit zudem während der Intubation aus dem Magen rauskommt, dann ja, schicke ich die Angehörigen raus“, so ein Arzt aus der Klinik. „Ich habe in so einer Situation schon genug zu tun, als mich noch mit Angehörigen zu beschäftigen.“
Geht es nur darum, einen ZVK zu legen, macht er das vom jeweiligen Personenkreis abhängig. Nicht alle Menschen sind hart im Nehmen und „ein kollabierter Angehöriger auch wieder das letzte, was ich brauche“, so sein Fazit.
Mit solchen Herausforderungen sind auch Veterinärmediziner vertraut. „Als Tierarzt sehe ich auch die große Gefahr von kollabierenden Angehörigen“, berichtet ein Kollege. „Hierbei können sie sich übel bis schwer verletzen.“ Bei ihm klappten in der Praxis mehrfach Tierbesitzer bei harmlosen Interventionen an Hund oder Katze zusammen. Wer gegen eine Tischkante fällt, kann sich über verletzten, inklusive möglicher Regressansprüche gegen den Praxisinhaber.
Doch gut gemeint ist eben noch lange nicht gut. Ärzte haben ihre Patienten im Blick und wollen bei Angehörigen kritische Situationen vermeiden. Ob das richtig ist, sei dahingestellt. Anfang 2018 untersuchte Sarah Beesley auf Basis einer prospektiven Kohortenstudie, wie Menschen reagieren, falls ihre Angehörigen plötzlich auf die Intensivstation verlegt werden.
Von 100 Studienteilnehmern, die miterlebt hatten, wie ein Angehöriger auf der Intensivstation landete, gaben nach drei Monaten 29 Personen Angstsymptome an. 15 Teilnehmer berichteten von Symptomen einer Depression und 14 Teilnehmer über posttraumatische Stresssymptome. Zwar kann die Forscherin keine Kausalität nachweisen. Sie sieht ihre Ergebnisse jedoch als Basis für größere Studien und fordert, mehr Augenmerk auf Angehörige zu richten.
Sie profitieren sehr wohl von Erfahrungen bei medizinischen Notfällen – sagt auch Patricia Jabre vom Assistance Publique-Hôpitaux de Paris. Die Forscherin hat schon vor fünf Jahren Ergebnisse einer Befragung mit 570 Laien veröffentlicht. 266 wurden der Interventionsgruppe zugeordnet. Sie nahmen als Zuseher an einer kardiopulmonalen Reanimation von Familienangehörigen teil und wurden anschließend betreut.
In der Kontrollgruppe (304 Teilnehmer) war dies nur auf expliziten Wunsch möglich. 79 Prozent (Interventionsgruppe) versus 43 Prozent (Kontrollgruppe) waren bei notfallmäßigen Interventionen letztlich dabei. Tatsächlich war das Risiko, Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) zu entwickeln, in der Kontrollgruppe 1,7-fach höher als in der Interventionsgruppe.
„Die familiäre Präsenz während der Reanimation war mit positiven Ergebnissen bei psychologischen Variablen verbunden und beeinträchtigte nicht die medizinischen Bemühungen“, fasst Jabre zusammen.
Wissenschaftliche Empfehlungen bleiben eher vage. In der Leitlinie „Reanimation“ steht: „Der ERC (European Resuscitation Council) befürwortet, dass Angehörigen die Möglichkeit angeboten wird, während eines Wiederbelebungsversuchs anwesend zu sein, wobei man über kulturelle und soziale Besonderheiten Bescheid wissen und mit diesen sensibel umgehen soll.“ Solange die Aussagen in Leitlinien so wenig konkret sind, bleibt es wohl vorerst bei der üblichen Praxis und die Angehörigen müssen raus in den Wartebereich.
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