Erstmals in Deutschland klagt ein Mann gegen einen Hersteller des Haarwuchsmittels Finasterid. Der Vorwurf: Eine durch das Mittel ausgelöste Depression sei selbst nach dem Absetzen nicht abgeklungen. Welche Medikamente stehen noch im Verdacht, Depressionen zu verursachen?
Vor dem Landgericht Paderborn klagt aktuell ein Mann aus Nordrhein-Westfalen gegen einen Hersteller von Finasterid. Der Grund: Das Haarwuchsmittel habe schwere Nebenwirkungen, die auch Jahre nach dem Absetzen für den Mittdreißiger noch gravierend seien. Darunter seien schwere Depressionen mit Suizidgedanken, sexuelle Einschränkungen und eine stark verminderte Konzentrationsfähigkeit. Arbeiten könne er kaum noch. Hinter dem Diplomkaufmann stehen eine Reihe außergerichtliche Teilnehmer, denen es ähnlich geht. Auch sie haben den 5-Alpha-Reduktasehemmer, der sonst in der Behandlung der benignen Prostatahyperplasie (BPH) Verwendung findet, zur Therapie der androgenetischen Alopezie eingesetzt.
In den USA gab es bereits Klagen gegen Hersteller des Haarwuchsmittels (DocCheck berichtete). Schon da wurden deutsche Patienten hellhörig. Spätestens aber mit Prägung des festen medizinischen Begriffs Post-Finasterid-Syndrom waren die starken Nebenwirkungen des Medikaments offensichtlich. Einer der Unterstützer des Klägers in Paderborn beschreibt, wie er durch Finasterid von „einem gesunden, aktiven und positiven Typ“ zu einem Menschen mit schweren Schmerzen, Übergewicht und Depressionen geworden sei.
Auf dem Beipackzettel erstaunlich vieler Medikamente findet sich „Depression“ unter den Nebenwirkungen, manchmal sogar eine „erhöhte Suizidneigung“. Forscher um Dima Qato von der University of Illinois (Chicago) haben nun untersucht, wie häufig diese unerwünschten Effekte auftreten, insbesondere wenn man mehrere solcher Medikamente gleichzeitig einnimmt.
Die Wissenschaftler aus Chicago haben über 20.000 Menschen in Abständen von zwei Jahren befragt, welche Medikamente sie genommen haben und welche Symptome danach auftraten. Im Fokus standen dabei 200 Mittel, die Erwachsene in den USA besonders häufig einnehmen, die meisten davon sind auch in Deutschland erhältlich.
Besonders folgende Arzneimittel fielen im Zusammenhang mit begleitenden Depressionen auf:
Für PPI ist schon länger ein 2,3-faches Risiko für Depression als Nebenwirkung bekannt und bei Kontrazeptiva ein 1,7-faches Risiko. Die Häufigkeit von Depressionen liegt im niedrigsten Fall bei 16 Prozent für Finasterid. Die höchste Zahl fanden die Forscher für Gabapentin mit mehr als 60 Prozent Nebenwirkungspotenzial für Depressionen.
Die Wissenschaftler stellten fest, dass bei mehr als 200 häufig verwendeten, verschreibungspflichtigen Medikamenten Depression oder suizidale Gedanken als mögliche Nebenwirkungen aufgeführt sind. Die Studie beantwortet aber nicht die Frage, ob die Medikamente selbst das depressive Verhalten auslösten oder die Grunderkrankung.
Zudem handelte es sich lediglich um eine Befragung, bei der individuell empfundene Symptome erörtert wurden, nicht jedoch um medizinische Diagnosen. Ebenfalls unklar ist, ob sich die Ergebnisse der Einzelsubstanzen, beispielsweise Metoprolol, auch auf andere Betablocker übertragen lassen.
Fazit der Forscher: Polypharmazie kann zu depressiven Symptomen führen. Ärzte und Patienten müssten sich dieses Risikos bewusst sein, das mit allen Arten von üblichen verschreibungspflichtigen Medikamenten einhergehe.
Betablocker werden bei Tachykardien, Herzinsuffizienz und Hypertonie eingesetzt, sie gehören zu den meist verordneten Arzneistoffgruppen überhaupt. Ein Zusammenhang zwischen dem Einsatz von ß-Blockern und Depressionen wird seit langem angenommen. Lipophile ß-Blocker, wie beispielsweise Propranolol und Metoprolol, überwinden die Blut-Hirn-Schranke erheblich leichter als nicht-lipophile ß-Blocker wie Atenolol. Daher werden sie mit höheren Raten neuropsychiatrischer Nebenwirkungen in Verbindung gebracht.
Eine umfassende Überprüfung von Ceelano et al. von mehr als 5800 Patienten, die Propranolol erhielten, belegt, dass dieser Wirkstoff selten mit depressiven Symptomen in Verbindung gebracht wurde und dass diese Symptome erst nach längerem Gebrauch auftraten.
Wenn Studien auf die Verwendung anderer ß-Blocker ausgedehnt wurden, fand die Mehrheit der Studien und Übersichtsarbeiten keinen Zusammenhang zwischen ß-Blockern und Depressionen. Die umfangreichste Analyse der Verbindung zwischen ß-Blockern und Depressionen war eine Meta-Analyse von 15 Studien mit mehr als 35.000 Patienten.
Ko et al. fanden heraus, dass ß-Blocker nicht mit einem signifikanten Anstieg der Berichte über depressive Symptome verbunden waren. Außerdem gab es keine Unterschiede zwischen den Ergebnissen nach Verwendung von lipophilen und nicht-lipophilen Pharmaka. Neuere Studien sehen ebenfalls kein vermehrtes Auftreten von Depressionen unter Betablockern. Auch wenn somit die Studienlage heterogen ist, spricht eine Mehrzahl neuerer Studien Betablocker vom Verdacht der Depressionsauslösung frei.
Kontrazeptiva und Suizid: nicht pillepalle
Seit längerem ist bekannt, dass orale Kontrazeptiva die psychische Stabilität der Anwenderinnen beeinflussen können. Die Europäische Zulassungsbehörde warnt vor einer gesteigerten Rate an Suizidversuchen. Gynäkologen um Charlotte Skovlund von der Universitätsklinik Kopenhagen wiesen in der zugrunde liegenden Untersuchung einen Zusammenhang zwischen hormoneller Verhütung und einem erhöhten Suizidrisiko nach.
Die Mediziner werteten dafür die Daten von gut 475.000 Frauen aus. Knapp 7.000 davon hatten mindestens einen Suizidversuch unternommen, rund 70 Frauen einen Suizid begangen. Fazit der Studie: Frauen, die hormonelle Verhütungsmittel anwenden, haben ein doppelt so hohes Risiko für Selbsttötungsversuche und ein dreimal so hohes Risiko, tatsächlich Suizid zu begehen.
In einem Rote-Hand-Brief vom Januar 2019 werden die Fachkreise informiert, dass im Beipackzettel folgender Warnhinweis auftaucht:
„Manche Frauen, die hormonelle Verhütungsmittel anwenden, berichten über Depressionen oder depressive Verstimmungen. Depressionen können schwerwiegend sein und gelegentlich zu Selbsttötungsgedanken führen. Wenn bei Ihnen Stimmungsschwankungen und depressive Symptome auftreten, lassen Sie sich so rasch wie möglich von Ihrem Arzt medizinisch beraten.“
Auch die Europäische Arzneimittelagentur warnt vor Depressionen und Suizidalität unter hormonellen Kontrazeptiva.
Zahlreiche Arzneimittel können die Psyche negativ beeinflussen. Es geht aber auch anders und oft ist der Zufall der beste Forscher. Eine Studie von Moda-Sava et al. zeigt, dass einige Medikamente als Nebenwirkung Depressionen lindern können. Patienten, die jahrelang unter therapieresistenten Depressionen litten und vom Notarzt wegen eines Traumas das Narkoanalgetikum Esketamin als Nasenspray erhielten, berichteten Erstaunliches. Eine einmalige Gabe des Narkosemittels heilte oder linderte ihre depressiven Beschwerden.
Das Narkoanalgetikum Esketamin ist in der Lage, bei einer nasalen Applikation auch längerandauernde Depressionen zu vermindern. Die Forscher bewiesen, dass Esketamin den stressinduzierten Verlust von Dornenfortsätzen an Dendriten, wie er typischerweise bei Depressiven auftritt, selektiv aufheben kann. Zudem kann der Arzneistoff offenbar Synapsen im präfrontalen Cortex wiederherstellen. Die schnelle antidepressive Wirkung von Esketamin scheint nicht, wie bisher angenommen, auf einer Blockade der NMDA-Rezeptoren zu beruhen, sondern auf einer Aktivierung von Opioid-Rezeptoren, so eine Studie von Williams et al.
In den USA ist ein Esketamin-Nasenspray zur Therapie von Depressionen bereits zugelassen. Der Patient wird sich jedoch seine Depression nicht im heimischen Wohnzimmer wegsprühen können. Patienten dürfen das Spray nur unter ärztlicher Aufsicht in einer Arztpraxis oder Klinik anwenden und müssen im Anschluss mindestens zwei Stunden überwacht werden. Denn Esketamin kann Halluzinationen und dissoziative Erlebnisse auslösen.
Bei jeder Depression und/oder Suizidgedanken sollte eine ausführliche Medikationsanalyse erhoben werden. Gerade bei älteren multimorbiden Patienten finden eine Polymedikation statt, die das Risiko einer Depression steigert. Ist der Patient dann noch exsikkiert und/oder unterzuckert, steigt das Risiko eines Delirs oder einer Depression erheblich.
Artikel von Matthias Bastigkeit
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