Dass Finasterid zu Impotenz oder Depression führen kann, ist seit Jahren bekannt. Jetzt klagen Patienten in den USA gegen Hersteller. Auch in Deutschland gibt es Patienten, die über eine Klage nachdenken. Haben Firmen zu wenig vor negativen Folgen gewarnt?
Nicht nur durch Donald Trumps Haarpracht ist Finasterid wieder ins Gespräch gerückt. Amerikas Präsident verwendet wie Millionen anderer Männer den Wirkstoff gegen androgenbedingten Haarausfall. Im Zuge der Therapie kommt es häufig zu Impotenz. Ab 2012 beschloss die FDA, ihre Warnungen zu verschärfen, was vielen Anwendern nicht ausreicht. Deshalb prozessieren laut Washington Post in den USA jetzt 1.370 Personen gegen Merck als einem der pharmazeutischen Hersteller. Den Klägern kommt eine Besonderheit des amerikanischen Rechtssystems zu Gute, die bei uns nicht möglich ist: Kanzleien tragen das Risiko entsprechender Klagen, fordern aber im Gegenzug horrende Summen als Schmerzensgeld. Sollten sie Erfolg haben, sichern sie sich Anteile von 30 bis 50 Prozent. Der Vorteil für Klienten: Für sie bleibt die Sache risikolos, falls ein Prozess scheitert. Dann gehen alle Seiten leer aus. Merck hat bislang auf die Vorwürfe nicht reagiert. Um welche Summen es konkret geht, weiß derzeit noch keiner.
So unklar die rechtliche Lage auch ist, umso klarer ist das Profil möglicher Nebenwirkungen. Finasterid wirkt als selektiver Inhibitor der Steroid-5α-Reduktase. Dadurch kann das Sexualhormon Testosteron nicht mehr in Dihydrotestosteron (DHT) umgewandelt werden. Dieses Stoffwechselprodukt spielt beim androgenetischen Haarausfall eine zentrale Rolle: Haarfollikel sind gegen DHT überempfindlich. Ihre Wachstumsphase (Anagenphase) wird verkürzt. Ohne DHT verlängert sich dieser Zeitraum, falls noch ausreichend viele Follikel vorhanden sind. Schlucken Patienten langfristig 1 mg Finasterid pro Tag, verringert sich ihr Haarausfall, und die Haardichte steigt. Da auch die Prostata im Wachstum auf DHT reagiert, verschreiben Urologen Finasterid (5 mg) bei benigner Prostatahyperplasie. Bereits im Jahr 1992 fanden Wissenschaftler Hinweise auf Ejakulationsstörungen, auch Verminderungen der Libido und Impotenz durch das Pharmakon. Obwohl weitere Studien folgten, wurden viele Beschwerden auf das hohe Alter von Patienten zurückgeführt: Ursprünglich erhielt der Hersteller nur eine FDA-Zulassung für die gutartige Prostata-Erkrankung. Erst 1997 folgte die androgenetische Alopezie. Plötzlich erhielten deutlich jüngere Männer den Wirkstoff. Bereits 1998 verglichen Forscher Finasterid mit Placebo. Ihre Studie umfasste mehr als 1.500 Männer im Alter von 18 bis 41 Jahren. Da es primär um die Wirksamkeit ging, waren Aussagen zu Nebenwirkungen methodisch schwach. Trotzdem gab es Hinweise auf signifikant mehr Anzeichen für sexuelle Dysfunktionen. Unter Verum traten bei 4,2 Prozent Beschwerden auf, während unter Placebo nur 2,2 Prozent davon berichteten. Zusammenhänge mit Depressionen und mit Suiziden gelten auch als wahrscheinlich.
Noch schlimmer wurde die Sache, als ab 2012 plötzlich Hinweise auftauchten, dass unerwünschte Effekte nicht verschwinden, falls Patienten ihr Präparat wieder absetzen. Von 54 Männern unter 40 hatten 96 Prozent selbst nach drei Monaten noch sexuelle Funktionsstörungen. Ein neuer Begriff erblickte das Licht der medizinischen Welt: das Post-Finasterid-Syndrom. An diesem Krankheitsbild mit Libidoverlust, verminderter Reaktion auf sexuelle Reize, Erektionsschwierigkeiten, Depressionen, u.a. zweifelt heute niemand mehr. Wie komplex die Symptome sind, wurde aber lange Zeit unterschätzt. Zuletzt haben Forscher 244 Postings im Patientenforum propeciahelp.com ausgewertet. Sie fanden bei 74 Einträgen (32 Prozent) Hinweise auf eine antiandrogene Wirkung. 43 Texte (19 Prozent) sprachen für eine östrogene Wirkung, 70 (30 Prozent) User berichteten über zentrale Beschwerden, 11 (5 Prozent) über unspezifische Nebenwirkungen und 31 (14 Prozent) über unerwünschte Effekte in mehreren Kategorien. Neuere Studien bestätigen dies vor allem im Bereich sexueller Dysfunktionen. Vor knapp einem Jahr veröffentlichten Forscher Resultate einer großen Studie mit mehr als 11.000 Anwendern zwischen 16 und 42 Jahren, bei denen altersbedingt eher selten mit Beschwerden beim Geschlechtsverkehr zu rechnen ist. 167 (1,4 Prozent) klagten nach dem Absetzen über eine längerfristige erektile Dysfunktion. Die Beschwerden hielten im Mittel 1.348 Tage (631,5 bis 2.320,5 Tage) an. Wer das Pharmakon länger als 205 Tage einnahm, hatte ein knapp fünfmal höheres Risiko, verglichen mit einer kürzeren Anwendungsdauer. Anders ausgedrückt kam auf 108 langfristig behandelte Patienten ein zusätzlicher Fall mit Impotenz. Die Arbeit hat insofern Relevanz, als dass Finasterid dauerhaft gegen androgenetische Alopezie verwendet wird. Nach dem Absetzen verschwinden die Effekte auf die Haarfollikel wieder.
Warum manche Personen komplexe Nebenwirkungen zeigen, andere jedoch nicht, ist unklar. Möglicherweise beeinflusst Finasterid den Spiegel neuroaktiver Steroide im Liquor. Forscher diskutieren außerdem die Hypothese, dass Finasterid unser dopaminerges System hemmt. Dafür gibt es zumindest aus Tierexperimenten Belege. Bei adulten männlichen Ratten zeigten sich Änderungen im sogenannten Offenfeld-Test. Gesunde Nager erkunden eine freie beleuchtete Fläche geprägt durch Neugier und Angst. Diese Verhaltensweisen wurden durch Finasterid unterdrückt. Gleichzeitig verringerte sich der Spiegel an Dopamin und an Metaboliten im präfrontalen Kortex, Hippocampus, Putamen beziehungsweise im Nucleus accumbens. Auf zellulärer Ebene wurden Gene herunterreguliert, die für Tyrosinhydroxylase codieren. Das Enzym katalysiert den Schritt von Tyrosin zu L-DOPA, einer Vorstufe von Dopamin.
Es bleibt aber nicht bei neurologischen Komplikationen. Eine große Kohortenstudie mit allen Männern aus Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden, denen Finasterid verschrieben wurde, zeigt Assoziationen mit dem recht seltenen Brustkrebs. Laut Krebsinformationsdienst erkranken pro Jahr deutschlandweit weniger als 700 Männer an Brustkrebs, verglichen mit über 70.000 Fällen bei Frauen. Um plausible Assoziationen nachzuweisen, sind große Zahlen an Probanden notwendig. Die Studie umfasste 1.365.088 Personenjahre und eine maximale Nachbeobachtungszeit von 15 Jahren. Hier erhöhte sich das Risiko um 44 Prozent. Schlossen die Autoren Personen mit zu kurzem Follow-up aus, waren es sogar 60 Prozent. Kausale Zusammenhänge kann keine Kohortenstudie belegen, insofern bleibt ein gewisses Fragezeichen.
Patienten aus Deutschland sind jedenfalls hellhörig geworden. Laut Berichten der „Welt“ planen zwei Geschädigte, gegen Hersteller und Behörden zu klagen. Es ist nicht auszuschließen, dass weitere Auseinandersetzungen folgen. Wie in den USA lautet auch hier die Kritik, Hersteller hätten nicht ausreichend vor Nebenwirkungen gewarnt.