Online-Spiele, Social Media, Chats oder Pornos – pathologischer Internetkonsum hat viele Gesichter. Mehr und mehr User verfallen dem Online-Rausch und gefährden damit ihre sozialen Beziehungen. Jetzt berichten Neurobiologen von den Folgen für das Gehirn.
Erziehung 2.0: Jedes fünfte Kind reagiert ruhelos und gereizt auf Online-Einschränkungen durch Erziehungsberechtigte. Und elf Prozent aller 12- bis 17-Jährigen haben mehrfach erfolglos versucht, ihren eigenen Internetkonsum zu kontrollieren, berichten die DAK-Gesundheit und das Deutsche Zentrum für Suchtfragen. Als Basis zogen Wissenschaftler eine repräsentative Befragung mit 1.000 Müttern und Vätern zum Internet- und Computergebrauch ihrer Sprösslinge heran.
Dazu einige Details: Nahezu jedes zehnte Kind nutzt das Web, um vor eigenen Problemen zu fliehen. Und 22 Prozent der 12- bis 17-Jährigen reagierten gereizt, falls Eltern sie anwiesen, ihre Internet-Nutzung zu verringern. Mütter oder Väter hatten in elf Prozent aller Fälle mehrfach erfolglose Versuche unternommen, das Online-Verhalten ihres Nachwuchses zu kontrollieren. Bei sieben Prozent aller Kleinen gefährdete die Onlinewelt soziale Beziehungen oder Bildungschancen, wobei Jungs doppelt so häufig betroffen waren. „Die Daten deuten darauf hin, dass etwa fünf Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland unter krankhaften Folgen ihrer Internetnutzung leiden“, sagt Professor Dr. Rainer Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Professor Dr. Manfred E. Beutel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin der Universitätsmedizin Mainz. Er hat rund 2.400 Teenager zwischen zwölf und 18 Jahren befragt. 3,4 Prozent aller Jugendlichen nutzen das Internet suchtartig. Sie sind mehr als sechs Stunden täglich im Web unterwegs, haben keine Kontrolle mehr über Onlinezeiten, und geben frühere Interessen auf. Beutel führt persönliche, familiäre oder schulische Konsequenzen aufgrund der vielen Zeit vor dem Computer oder am Handy an. Keinen suchtartigen, aber dennoch exzessiven und ausufernden Gebrauch zeigen 13,8 Prozent der Befragten. „Jugendliche, die häufig Angebote von Onlinespielen und Sexportalen nutzen, haben eine schlechtere Bindung zu ihren Freunden“, sagt Beutel. „Sie kommunizieren weniger, vertrauen ihren Freunden nicht so sehr und fühlen sich von anderen stärker entfremdet.“ Neue Medien will der Forscher aber keineswegs verteufeln. Digitale soziale Netzwerke seien förderlich für die Beziehung und Bindung zu Gleichaltrigen. Auch hier könne es jedoch zum suchtartigen Gebrauch kommen. Laut der Studie sind beide Geschlechter gleichermaßen betroffen – nur die Inhalte unterscheiden sich. Mädchen nutzen das Internet häufiger zum Austausch, zur Recherche und zum Onlineshopping, während Jungs mehr Zeit mit Onlinespielen verbringen.
Bei Männern stehen Pornos im Mittelpunkt. Erotische Inhalte führen häufiger zu riskanten sexuellen Verhaltensweisen [Paywall], berichtet Paul J. Wright aus Bloomington. Damit gab er sich nicht zufrieden. Wright wertete im Rahmen einer Metaanalyse 22 Studien aus sieben unterschiedlichen Ländern aus. Er bringt den Konsum erotischer Inhalte mit sexuell aggressiven Verhaltensweisen in Verbindung. Doch was passiert auf neurobiologischer Ebene? Cecilie Schou Andreassen aus Bergen zieht Parallelen zwischen der Abhängigkeit von Online-Medien und Betäubungsmitteln. Sie legte Studenten verschiedene Bilder vor, die teilweise aus Facebook stammten. Betätigten Probanden besonders schnell einen Knopf, zeigten sie auch stärkere Abhängigkeiten vom sozialen Medium. Auf dieser Basis hat Andreassen eine „Facebook Addiction Scale“ entwickelt. Kürzlich von Matthias Brand, Duisburg, veröffentlichte Daten bestätigen Andreassens Vermutungen [Paywall]. Brand identifizierte Zusammenhänge zwischen dem Pornokonsum und der Aktivität des ventralen Striatums. „Auf neuraler Basis ist Internet-Pornografie mit anderen Abhängigkeiten vergleichbar“, lautet sein Fazit. Älteren Arbeiten zufolge [Paywall] führt der exzessive Konsum von Pornos zu nachweisbaren Veränderungen an Gehirnstrukturen. Simone Kühn und Jürgen Gallinat aus Berlin untersuchten 64 gesunde Männer zwischen 21 bis 45 Jahren über Methoden der bildgebenden Diagnostik. Gleichzeitig erfassten sie den Konsum erotischer Online-Medien per Fragebogen. Die Ergebnisse überraschten: Je mehr Zeit Probanden mit erotischem Online-Content verbrachten, desto kleiner war ihr Nucleus caudatus. Die Struktur, auch Schweifkern genannt, ist ein Kerngebiet im Telencephalon. Sie wird mit der Wahrnehmung beziehungsweise der Unterscheidung von Belohnungen, aber auch mit der Motivation, Belohnungen zu erhalten, in Verbindung gebracht. Entsprechende Zusammenhänge zwischen dem Volumen und dem Pornokonsum blieben selbst nach Berücksichtigung weiterer Abhängigkeiten signifikant.
Doch soweit muss es gar nicht kommen. Speziell für Kinder und Jugendliche hat die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) einen Selbsttest zu Computerspiel- und Internetsucht entwickelt. Eltern finden unter anderem bei der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen (HLS) Online-Tools, um das Verhalten ihres Nachwuchses zu bewerten.