Auf der Homepage der DGN war am 08.08.16 zu lesen: „Laut einer neuen Studie aus den USA wirken sich Verständigungsprobleme, z.B. während eines Urlaubs im Ausland, im Fall eines Schlaganfalls nicht negativ auf dessen Akutbehandlung aus“. Ich möchte dies anhand eines eigenen Beispiels hinterfragen.
Doch zunächst einmal zur Studie. Diese retrospektive Studie, die im Neurohospitalist zu lesen war, beschäftigte sich mit der Frage, ob sich die Akutbehandlung bei Patienten, die nicht dieselbe Sprache sprechen wie der Behandler, unterscheidet.
Als Surrogatparamter dienten dabei die door-to-imaging time (DIT), also die Zeit von Ankunft des Patienten bis eine Aufnahme vom Gehirn erstellt wurde, die imaging-to-needle-time (ITN), die Zeit von Bild zur rtpa-Lyse und door-to-needle-time (DTN), also die Zeit von Ankunft bis Lyse.
Aufgeteilt wurden die Patienten in die Gruppen der concordant cases (Sprache gleich) und discordant cases (Sprache verschieden). Summa summarum ergaben sich weder für DIT, noch ITN noch für DTN signifikante Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Gruppen.
57 Minuten bis zur Lyse?
Schauen wir uns mal das Patientenkollektiv an. Meist handelte es sich bei den Patienten um englisch- oder spanischsprechende Personen. Die mittlere door-to-needle-time betrug für beide Gruppen zusammen 57 Minuten.
Hoppla, denke ich mir da. 57 Minuten! In der Studie wird von einem „high volume Stroke Center“ gesprochen, also einer Klinik, die wirklich mit vielen Schlaganfällen zu tun hat. Meine Klinik hat eine door-to-needle-time von 35 Minuten.
Der NIHSS betrug im Mittel 7 Punkte. Klinisch somit ziemlich eindeutige Fälle. Da frage ich mich, wieso man 57 Minuten bis zur Lyse braucht. Auch wird der NIHSS nicht weiter differenziert. Handelt es sich um rein motorische Symptome oder waren auch Aphasien dabei?
Interessanterweise war die Rate an Stroke mimics, also in den Fällen, in denen eine andere Ursache zu Grunde lag (z. B. Elektrolyte, Hypoglykämie, epileptischer Anfall, Migräne) in der Gruppe, in der Behandler und Patient dieselbe Sprache sprachen höher. Ich hätte dies eher für die Gruppe der diskordanten Fälle gedacht. Doch wahrscheinlich lässt man sich mit der Entscheidung mehr Zeit und denkt die Differentialdiagnosen genauer durch. Eine andere Studie in Stroke konnte sogar zeigen, dass Patienten mit Sprachbarriere eine niedrige Mortalität aufweisen.
Klinik mit 24h-Übersetzungsdienst
Limitierung sind, nur um eine wichtige herauszuheben, wie die Autoren aber auch selbst angeben, dass ein professioneller Übersetzer sozusagen mitgeholfen haben könnte. Und in der Tat bietet die Klinik einen 24h-Übersetzungsdienst für Spanisch an. Doch wurde dies nicht einmal im Fragebogen festgehalten. Familienmitglieder könnten ebenfalls zu Rate gezogen worden sein, auch wenn dies wohl erst erlaubt war, wenn der professionelle Übersetzer nicht zur Stelle war.
Ich persönlich finde diese Studie wenig überraschend, vor allem angesichts des deutlichen NIHS-Score. Mich irritiert eher die lange door-to-needle-time.
Eigener Fall
Viel interessanter, weil nicht so offensichtlich, ist der folgende Fall aus meiner Klinik: Ein 73-jähriger syrischer Flüchtling wird mit dem Verdacht auf Schlaganfall in die Klinik eingeliefert. Vorerkrankungen sind: Diabetes mellitus Typ 2, Arterielle Hypertonie.
Eine Eigenanamnese ist unmöglich. Die mitgekommene Ehefrau spricht genauso wenig deutsch. Der Patient sei erst seit kurzer Zeit in Deutschland und habe eine strapaziöse Reise hinter sich. Hinweise für motorische Ausfälle ergeben sich nicht.
Glücklicherweise ist ein arabisch sprechender Kollege vor Ort. Er spricht zwar nicht denselben Dialekt wie der Patient, kann sich aber mit ihm und der Ehefrau unterhalten. Die Ehefrau berichtet, dass er seit längerem schon antriebslos sei, vergesslich und einfach komisch. Der Patient selbst sagt nur, er verstehe manches nicht, was in seiner Sprache zu ihm gesagt wird. Ich berate mich mit dem OA. Wir veranlassen ein CCT. Dieses zeigt sich unauffällig. Da die weitere Untersuchung unauffällig bleibt, entschließen wir uns ihn mit V.a. dementielle Entwicklung auf Station aufzunehmen. Einige Zeit später erfahre ich, dass er mit der Diagnose Pseudodemenz bei Depression nach Hause geschickt wurde. Liegezeit waren ca. 4–5 Tage. Ein MRT wurde, auch auf meine Nachfrage, nicht angefertigt.
Wiedersehen nach einer Woche
Eine Woche später wird der Patient erneut in Krankenhaus eingliefert. Diesmal mit einem komplex-fokalen Anfallsstatus. Nach Durchbrechung des Status kommt der Patient auf die Stroke-Unit zur Überwachung. Im anschließenden kraniellen MRT zeigt sich eine links temporale Ischämie. Retrospektiv wird der Patient also an einer Aphasie gelitten haben sowie kognitiven Auffälligkeiten. Leider war dies in der Notaufnahmesituation nicht herauszufinden.
Auf die Akutbehandlung hatte dies damals so gesehen keinen Einfluss, weil das Lysefenster unklar bzw. verstrichen war. Lediglich ein MRT und/oder EEG (das einen Verlangsamungsherd hätte zeigen können) hätten früher die Diagnose möglich gemacht.
Was also tun bei Patienten mit Sprachbarriere?
Wenn nicht offensichtlich eine Hemiparese besteht oder der Patient nicht mehr Stehen und Gehen kann, würde ich mich an dem ABCD2-Score orientieren. Auch wenn gezeigt werden konnte, dass er als Screeningtool nicht taugt (zu geringe Sensitivität und Spezifität).
Errechnet wird der Score folgendermaßen: jeweils 1 Punkt für Alter > 60 Jahre, Blutdruck > 140/90 mmHg, Sprachstörung ohne weitere motorische Ausfälle, Anhalten der Symptome zwischen 10 und 59 Minuten, Diabetes Mellitus, jeweils 2 Punkte für einseitige neurologische Ausfälle, Anhalten der Symptome > 60 Minuten.
Ein Score > 2 Punkte gilt als Prädiktor für ein hohes Risiko für einen Schlaganfall.
Wenn wir also nun meinen Beispielpatienten mit der unklaren Symptomatik nehmen, dann hätten wir 1 Punkt für das Alter, 1 Punkt für Diabetes Mellitus, 1 Punkt für den Blutdruck und wenn man die Dauer der Symptome hinzunimmt, müsste man ihm 2 Punkte geben, da diese laut Ehefrau ja längere Zeit anhielten. Evtl. hätte er also früher der Stroke-Unit zugeführt werden können.
Bei Patienten mit unklarer Symptomatik ohne Hinweise für einen Stroke mimic evtl. ein zusätzliches Tool, um sich doch für die Stroke-Unit zu entscheiden.