Vegetarisch, vegan, Frutarismus, glutenfrei, Low Carb, Paläo, Clean Eating, Rohkost, intuitives Essen, Superfood oder Ayurveda. Die Fülle der angeblich gesunden Ernährungsformen ist unüberschaubar, und die Anhänger vertreten ihre Art der Nahrung mit fundamentalistischer Überzeugung. Was steckt dahinter?
Essen ist die neue Religion.
Wer sich „richtig“ ernährt, dem winken Schlankheit, Fitness, Schönheit, ein langes Leben mit ewiger Jugendlichkeit und Gesundheit. Übergewichtig sein ist nicht nur hässlich, sondern auch ungesund. Essen gegen Krebs. Idealgewichtig, fit und leistungsfähig bis ins Grab ist dagegen das anerkannte Ziel. Daher akzeptieren viele in ihrem Drang nach Selbstoptimierung die Askese als soziales Ideal: Man quält sich nicht nur im Fitnessstudio, sondern auch auf dem Esstisch.
Geißelten sich im Mittelalter die Mönche für ihr Seelenheil mit Peitschen und fasteten, so läuft man heutzutage für seinen Körper Marathons und verzichtet beim Essen auf angeblich Ungesundes. Anders als früher erwartet einen jedoch die Belohnung nicht erst im Jenseits, sondern im Jetzt und Hier.
Aber was ist eigentlich die richtige Ernährung?
Auf den Markt der gesunden Lebensweisen wimmelt es nur so von (pseudo-)wissenschaftlichen Ratgebern und Empfehlungen. Dies kann nicht nur verwirren, sondern auch Ängste schüren: Weizen macht dumm, Zucker süchtig, Milch krank und rotes Fleisch verursacht Darmkrebs, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Frage drei – teils selbsternannte – Experten zu diesem Thema und du erhältst fünf unterschiedliche Meinungen.
In einer Mischung aus Panikmache, mehr oder weniger fundierten medizinischen Erkenntnissen und Marketing werden als Auswege aus der angeblich modernen Fehlernährung die verschiedensten Konzepte angeboten, die sich vor allem durch eines auszeichnen, nämlich den absoluten Verzicht auf bestimmte Nahrungsprodukte. Streichen Vegetarier Fleisch und Fisch von ihrer Speiseliste, sind es bei Veganer gleich sämtliche Lebensmittel tierischen Ursprungs, bei der Paläo-Diät Getreide- und Milchprodukte und bei Clean Food – getreu der Devise „fertig ist schlecht, frisch zubereitet ist gut“– industriell verarbeite Nahrungsmittel, und schließlich gibt es auch noch glutenfrei oder lactosefrei.
Die Gurus oder Propheten dieser Bewegungen sind dann Köche wie Nico Richter oder Attila Hildmann, die sich wie spirituelle Führer darstellen und die angebliche Wirksamkeit ihrer Lehren mit der wundersamen Transformation belegen, die sie im Selbstversuch mit der von ihnen propagierten Kostform erlebt haben. Umstände oder ernährungswissenschaftliche Erkenntnisse, die nicht in ihr Konzept passen, oder gar Risiken werden konsequent ausgeblendet oder negiert, Kritik nicht zugelassen. Und dass man als angenehmen Nebeneffekt seiner missionarischen Bemühungen um das gesundheitliche Wohl der Menschheit reich und prominent wird und einen Porsche mit Ledersitzen fährt, passt vielleicht nicht ganz ins ethische Weltbild, da so ein Auto weder umweltfreundlich noch vegan ist, wird aber achselzuckend hingenommen.
Unqualifizierte Gurus?
Dass beispielsweise Veganismus und Paläo zwei Nahrungstrategien sind, die bei gleichem Ziel (nämlich gesünder sowie geistig und körperlich fitter zu sein) kaum gegensätzlicher sein könnten, macht es für den Verbraucher nicht gerade einfacher: Während Veganer Fleisch aus ethischen und gesundheitlichen Gründen verteufeln, wird bei der Steinzeitkost zu viel Fleisch geraten.
Dabei verteidigen die jeweiligen Jünger ihre Kostformen mit geradezu fundamentalistischem Eifer. Ihre Führer sind bei den Essern als Autoritäten anerkannt, ohne dass diese einschlägig vor- oder ausgebildet sind. Attila Hildmann ist ursprünglich weder Koch, noch Ernährungswissenschaftler, sondern Physiker. Nico Richter ist Wirtschaftsingenieur.
Nicht dass irgendjemand verlässlich wüsste, wie die Ernährung zur Steinzeit ausgesehen hat. Alles Spekulation. Aber Paläo führt letztlich zu einer sehr proteinreichen Kost, die nach Ansicht anderer Ökotrophologen langfristig zu einer Störung des Säure-Basen-Haushalts führen kann und das Risiko erhöhen soll, an Osteoporose zu erkranken. Eine Studie ergab zudem ein steigendes Risiko für Diabetes mellitus und rheumatische Erkrankungen.
Wer sich vegan ernährt, muss auf jeden Fall sehr gut Bescheid wissen und seinen Speiseplan dementsprechend minutiös gestalten, um keine Mangelerscheinungen zu entwickeln. Oft geht es nicht ohne Nahrungsergänzungsmittel, was dem Konzept einer angeblich „natürlichen“ Ernährung widerspricht.
Doch wer Kritik übt, hat einfach keine Ahnung und wird mit einem wahren Shitstorm belegt. Risiko einer Mangelernährung durch eine falsche Kostform? Vielleicht evidence based. Doch wie heißt es schon bei Christian Morgenstern: „nicht sein kann, was nicht sein darf“.
Dabei sind beispielsweise die wenigsten der angeblich gesundheitsfördernden Wirkungen von Superfood wissenschaftlich belegbar, zumindest nicht beim Menschen und bei Zufuhr in normalen Essensrationen.
Bei Menschen ohne echte Glutenunverträglichkeit im Sinne einer Zöliakie gibt es keinen nachweisbaren gesundheitlichen Nutzen durch eine glutenfreie Diät. Gluten ist weder toxisch noch müssten Angehörige von Zöliakie-Patienten oder Personen mit einem Risiko für die Erkrankung zwingend so ernährt werden. Dafür kann eine prophylaktische glutenfreie Ernährung zu Nährstoffdefiziten beitragen und die Diagnosestellung einer echten Zöliakie verzögern.
Trotzdem mischt die Industrie kräftig mit, schließlich kann man gutgläubigen Verbrauchern das Geld aus der Tasche ziehen.
Die Regale der Supermärkte quellen inzwischen über mit vegetarischen und veganen Lebensmitteln und Fleischersatzprodukten, welche eines sicherlich nicht sind, nämlich Clean Eating. Und obwohl in Deutschland nur geschätzte 15 Prozent der Bevölkerung an einer Lactoseintoleranz und nur 1:500 an einer Glutenunverträglichkeit leiden, boomt der Markt mit lactose- oder glutenfreien Produkten. Chiasamen und anderes sogenanntes Superfood gibt es mittlerweile auch im Drogeriemarkt zu kaufen.
Die unbedingte Bereitschaft der Konsumenten, ernährungstechnisch das Richtige zu tun, kombiniert mit der Unsicherheit darüber, was denn nun das Richtige ist, bildet den idealen Nährboden für diese Ernährungsdoktrinen.
Essen als Religionsersatz
Während die Kirchen leerer werden, hat der um sich greifende Ernährungsradikalismus religiöse Aspekte: Der perfekte Körper ist der neue Gott. Das Trainingsarmband und die App registrieren jeden Schritt und jede Kalorie. Es darf nicht gesündigt werden. Fleisch ist in den Augen von Vegetariern Mord und somit Sünde. Das hat durchaus theologische Tradition: Schon im Garten Eden hatte der Sündenfall von Adam und Eva etwas mit Essen zu tun. In vielen Glaubensgemeinschaften gibt es Essenstabus. Und wie in den großen Religionen versucht man die Ungläubigen zu missionieren.
Für das nutritive Seelenheil wird auf Rausch oder Genuss und die Gemeinschaft mit Andersessern verzichtet. Im normalen Restaurant gibt es vegetarische Gerichte auf der Karte, was selbstverständlich auch erwartet wird, im veganen aber keine Fleisch- oder Fischgerichte. Da ist man dogmatisch und intolerant.
Konsequenterweise wird Essen nur dann als „gute Nahrung“ betrachtet, wenn ihm bestimmte Inhaltsstoffe entzogen sind: Laktose, Gluten, Fett, Zucker oder Zusatzstoffe oder eben Getreide oder tierische Produkte. Seit ganze Lebensmittelgruppen als ungesund gelten, hat sich auch bei Menschen ohne Lebensmittelunverträglichkeiten das Gefühl festgesetzt, dass es je weniger enthalten ist, umso besser für den Konsumenten sein muss. Das Mittagessen muss nicht nur satt machen und die benötigten Nährstoffe liefern, es muss gleichzeitig auch eine heilsame Wirkung haben. Superfood eben, man muss nur daran glauben.
An diesen Heilversprechungen verdienen dann viele, teilweise mit Produkten, die trotz eines hohen Preises eine schlechte Qualität haben oder sogar Schadstoffe enthalten, wie Untersuchungen von Ökotest gezeigt haben. Was hingegen häufiger auf der Strecke bleibt, sind der Genuss und die Freude am Essen. Man zwingt Dinge in sich hinein, die einem eigentlich nicht wirklich schmecken, aber gut für einen sein sollen. Doch wie schon eine alte Weisheit sagt: Medizin hilft bekanntlich nur, wenn sie bitter ist.
Epidemie des schlechten Gewissens
Diese Rezepte führen jedoch längst nicht immer zum versprochenen körperlichen Wohlbefinden. Im Gegenteil: Nicht jeder Mensch verträgt Rohkost oder Vollkornprodukte, Allergien auf Sojoprodukte sind im Vormarsch, Superfood Goji-Beeren können mit Antikoagulantien Wechselwirkungen haben. Aber in unserer modernen, übersättigten Wohlstandsgesellschaft grassiert eine Epidemie des schlechten Gewissens. Bei genauem Nachfragen sind dann aber die ethischen Bedenken und die Sorgen um die Umwelt genauso groß wie die Sorge um die eigene Gesundheit und der Wunsch nach körperlichem und seelischem Heil. Wer ums Überleben kämpft, wie viele Menschen in ärmeren Teilen der Welt, der macht sich keine Gedanken um solche Regeln; der möchte einfach etwas Nahrhaftes auf den Teller bringen, das das nackte Überleben sichert.
Vielleicht sollten wir einfach weniger streng mit uns sein, sondern statt dessen mit guten Freunden eine Portion Spaghetti Carbonara essen, welche weder Low Carb, noch fettreduziert, nicht Paläo oder vegetarisch sind, auch nicht zur Rohkost gehören, und kein Superfood enthalten, aber verdammt gut schmecken, und dazu einen leckeren Rotwein trinken. Mit Genuss und ohne Reue und in dem Bewusstsein, wie gut es uns eigentlich geht! (Das ist übrigens ein mediterranes Gericht, was ja angeblich auch besonders gesund sein soll.)
Food for thought...
Bildquelle: Henri Brispot: Gourmand (Öl auf Leinwand) / Wikipedia