Unbezahlte Überstunden, kein Privatleben und gesundheitliche Probleme – so erleben viele Ärzte ihren Klinikalltag. Solange es in Deutschlands Krankenhäusern zu wenig Personal und zu viel Papierkram gibt, wird sich daran auch nichts ändern. Wie kann man es besser machen?
„Sobald jemand krank wurde oder wegen einer Schwangerschaft länger ausfiel, stellte sich ein Ausnahmezustand ein“, erzählt Dr. Klaus Hübner (Name geändert) über die Arbeitsbedingungen in einem großen Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen. In vielen Kliniken ist die Personalsituation angespannt. Besonders prekär wird es aber, wenn es zusäzlich noch zu Ausfällen kommt. „Phasenweise war ich von morgens um halb acht bis abends um neun in der Klinik – und ohne die Möglichkeit, mal etwas länger Pause zu machen.“ Pro Woche fielen bei ihm bis zu zwölf Überstunden an und das für lau. „Ich kenne kaum einen Kollegen, bei dem Mehrarbeit erfasst oder vergütet wurden“, ergänzt der Assistenzarzt.
„Meine Überstunden entstanden weniger durch Arbeiten am Patienten, als vielmehr durch Papierkram wie Arztbriefe“, erinnert sich Hübner. Die meisten Krankenhäuser seien hinsichtlich der IT-Infrastruktur nicht vernünftig modernisiert worden. „Teilweise geben wir die gleiche Information in vier verschiedene Systeme ein.“ Nach Lösungsmöglichkeiten gefragt, sieht er zwei Ansatzpunkte: „Bessere IT-Infrastrukturen wären eine immense Erleichterung.“ Derzeit werde die gleiche Information in bis zu vier verschiedene Systeme eingespeist. Darüber hinaus fordert der Kollege mehr nichtärztliches Personal zur Unterstützung: „Wir müssen nicht unbedingt selbst Blut abnehmen – das ist eher ein Relikt aus Zeiten der Ärzteschwemme.“ Seine Erfahrungen decken sich akkurat mit einer Umfrage des Hartmannbundes.
Für die Studie wurden 1.331 junge Assistenzärzte interviewt. Sie arbeiteten vor allem in kommunalen Krankenhäusern (30,4 Prozent), in Unikliniken (20,4 Prozent) sowie in Kliniken mit kirchlichem (18,3 Prozent) beziehungsweise privatem Träger (18,2 Prozent). „Höher. Schneller. Weiter. Ohne Rücksicht auf Verluste“, so kommentierte ein Kollege anonym bei der Befragung die Arbeitsbedingungen. Von den befragten Assistenzärzten kommen 36,1 Prozent auf maximal 5 Überstunden pro Woche, 35,1 Prozent auf 5–10 Überstunden, 16,4 Prozent auf 10–15 Stunden, 5,6 Prozent auf 15–20 Stunden und 3,5 Prozent auf mehr als 20 Stunden. Lediglich 3,4 Prozent gaben an, keine Mehrarbeit zu leisten. Besonders hohe Arbeitsbelastungen fielen in der Orthopädie/Unfallchirurgie und in der inneren Medizin/Kardiologie an. 48 Prozent aller Assistenzärzte gaben an, ihr Arbeitgeber hätte sie direkt oder indirekt aufgefordert, Überstunden nicht zu dokumentieren. Und bei 21,4 Prozent wird das zusätzliche Pensum weder vergütet noch mit Freizeit ausgeglichen. Pausenzeiten können 40 Prozent selten und weitere 14 Prozent nie einhalten. Immerhin sehen 61,3 Prozent ihr Privatleben durch den Job mehr oder minder stark gefährdet. 76,2 Prozent gaben an, schon mal zur Arbeit gegangen zu sein, obwohl sie eigentlich krank waren. Die Folgen liegen auf der Hand: 32,3 Prozent leiden unter Schlafmangel, 29,6 Prozent befürchten gesundheitliche Beeinträchtigungen und weitere 12,9 Prozent gaben an, aufgrund der Arbeitsbelastung bereits gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu haben. Erklärungungen für die starke Belastung: 64,1 Prozent der Studienteilnehmer gaben an, ihr Arbeitgeber habe zu wenig Personal eingestellt. Nur 27,5 Prozent bewerten die Personalsituation als „ausreichend“ und nur 4,9 Prozent als „sehr gut“. Nur 25,2 Prozent konstatieren, ihnen gehe es trotz der Arbeitsbelastung gut.
Auch die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) ist hellhörig geworden: Zusammen mit mehreren Fachgesellschaften beziehungsweise Verbänden hat sie rund 1.000 Ärzte und Pflegekräfte interviewt. Derzeit liegen nur Zwischenergebnisse vor, die vom Marburger Mund kommentiert wurden. Den Daten zufolge schluckt jeder fünfte junge Arzt mindestens einmal im Monat Medikamente, um sein Stressempfinden zu dämpfen. Jeder zweite befürchtet, am Burnout-Syndrom zu erkranken. Jeder achte Interviewte klagt über den immer stärkeren ökonomischen Druck bei medizinischen Entscheidungen. Und genauso viele Ärzte oder Pflegefachkräfte sprechen sich für eine Verringerung des Dokumentationsaufwands aus, um Freiräume zu schaffen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt der Marburger Bund im „MB-Monitor“: Laut einer Studie mit rund 6.200 im Krankenhaus angestellten Ärzten verbringt jeder vierte Arzt mehr als drei Stunden pro Tag mit Verwaltungstätigkeiten und Organisation. Ein Drittel schätzt den täglichen Zeitaufwand für diese Tätigkeiten auf ein bis zwei Stunden. „Die Arbeit gleicht mittlerweile eher einer Fließbandarbeit – zu viel Dokumentation, immer mehr Patienten für zu wenig Personal“, schrieb ein weiterer Kollege anonym bei der MB-Befragung. Und ein anderer ergänzte: „Der Dokumentationswahn nimmt immer mehr überhand, Teamassistenten werden nicht eingestellt, sodass man sämtliche administrative Tätigkeiten selbst erledigen muss: zum Beispiel Termine für Untersuchungen vereinbaren, Blutröhrchen bekleben, Akten sortieren.“ Es gibt also viel Raum für Verbesserungen der Arbeitssituation in Deutschlands Kliniken. Ein Vergleich mit der Schweiz lohnt sich besonders. Eidgenossen arbeiten mit Fallpauschalen (DRGs) auf Grundlage des deutschen Modells. Daran kann es also nicht liegen. Warum sind Kolleginnen und Kollegen trotzdem zufriedener?
„Ich gehe jeden Tag gerne zur Arbeit“, erzählt Dr. Dr. Galina Fischer, Assistenzärztin aus dem schweizerischen St. Gallen. Vergleicht sie die Systeme in Deutschland und in der Schweiz, sieht sie mehrere Unterschiede. „Bei uns haben Pflegekräfte deutlich mehr Kompetenzen, um Ärzte zu entlasten“, so Fischer. „Sie dürfen beispielsweise Blut aus der Vene oder aus Portsystemen abnehmen.“ Ob es vor Ort unbedingt mehr Mediziner gibt, kann sie nicht sagen. Entscheidend sei jedoch, dass die Pflege viel Arbeit abnehme und sehr gut im Team integriert sei. Ärzte würden im Vergleich zu Deutschland etwas besser, aber die Pflegekräfte deutlich besser bezahlt. „Dadurch kommen viele Arbeitskräfte aus anderen Ländern in die Schweiz.“ So haben die Eidgenossen ihre Personalprobleme elegant gelöst. Sie haben mehr Mitarbeiter.
Außerdem sei die Arbeitsverdichtung nicht ganz so groß wie in Deutschland, was mit längeren Regelarbeitszeiten von 48 bis 50 Stunden pro Woche zu tun habe. Gibt es phasenweise viel Mehrarbeit, erhalten Vorgesetzte eine Nachricht der Personalabteilung mit dem Hinweis, die Überstunden abbauen zu lassen – als Freizeit, versteht sich. Unter den Tisch fällt dabei nichts. Weiterbildung findet während der Arbeitszeit statt und man hat regelmäßig die Möglichkeit, externe Angebote in Anspruch zu nehmen. Fischer ergänzt: „Mittagspause ist Pflicht, und die Klinik-Kantine bietet hervorragendes Essen.“ Und nicht zuletzt werde das Thema Digitalisierung in der Schweiz stärker gepusht als in Deutschland. Dennoch gibt es Schattenseiten: Fischer arbeitet pro Jahr sechs bis acht Wochen mehr als Kollegen in Deutschland, sie hat weniger Urlaub und eine höhere wöchentliche Stundenzahl. Auch der Mutterschutz beginnt erst mit der Niederkunft und dauert 14 Wochen. Es gibt zwar mehr Kitas, aber ein Vollzeitplatz kostet bei ärztlichem Salär circa 2.000 Euro. Unlägst sorgte außerdem ein Zwischenfall in einem Zürcher Krankenhaus für Schlagzeilen: Nachdem bei einer Patientin Blutungen aufgetreten waren, wartete sie so lange auf das Pflegepersonal, dass sie schließlich mit dem Handy in der Notrufzentrale anrief (DocCheck berichtete). Fakt ist also: Auch beim Nachbarn läuft nicht alles rund, aber vielleicht können wir uns dennoch etwas von den Schweizer Krankenhäusern abgucken.