Ist der Hirnschaden irreversibel? Wie sicher sind die Richtlinien und Diagnostik? Diese Fragen stellen sich Ärzte und Patienten. Erfahrt hier, wie es zur Diagnose kommt und was das für den klinischen Alltag bedeutet.
Zusammenfassung:
In diesem Video geht es um den irreversiblen Hirnfunktionsausfall. Bei den meisten Patienten mit dieser Diagnose steigt der Hirndruck so weit an, dass das Herz-Kreislauf-System dem nicht mehr standhält und die Gehirndurchblutung nicht mehr gewährleistet wird, erklärt Dr. Farid Salih, Oberarzt der Klinik für Neurologie an der Charité Berlin. In seiner aktuellen Forschungsarbeit gewann er eine wichtige Erkenntnis: Der Durchblutungsstillstand des Gehirns erfolgt schon an einem früheren Punkt, als man bisher angenommen hatte. Anhand der zerebralen Perfusionsdruckwerte kann man also Risikopatienten eher identifizieren, eine frühzeitigere Diagnose stellen und Therapien anpassen. Salih hofft, die Pathophysiologie des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls verständlicher zu machen und so das Vertrauen in die Diagnose zu stärken. Mehr über die Forschungsergebnisse und wie man überhaupt einen Hirntod diagnostiziert, erfahrt ihr im Video.
Transkript des Interviews mit Dr. Farid Salih zum Thema: irreversible Hirnschäden. Es handelt sich um eine 1:1-Abschrift des Gesprochenen im Video.
DocCheck: Herr Dr. Salih, können Sie uns eine kurze Einführung dazu geben, wann man überhaupt von einem irreversiblen Hirnfunktionsausfall spricht?
Dr. Farid Salih: Man spricht von einem irreversiblen Hirnfunktionsausfall, wenn das Gehirn in seiner Gesamtheit, also in all seinen Teilen, irreversibel keine Funktion mehr hat – unabhängig von der Ursache.
DocCheck: Sie forschen dazu ja auch und haben jetzt aktuelle Ergebnisse ganz frisch vorgestellt. Worum ging es da? Können Sie das erst mal grob in drei Punkten zusammenfassen, bevor wir an die Details gehen?
Salih: Ja, wir nutzen in der modernen Neurointensivmedizin Ableitungsmethoden, mit denen wir unter anderem den Druck im Schädelinneren, aber auch den Blutfluss messen können. Wir untersuchen bei Patienten mit schwersten Gehirnschäden, bei denen dann schlussendlich der irreversible Hirnfunktionsausfall festgestellt wird, wie sich die Druckverhältnisse ändern. Und, einfach ausgedrückt, ist bei weit über 90 % der Hirntoten die Grundlage, dass aufgrund einer Läsion, einer Hirnschädigung, einer Blutung und einer schweren Schädel-Hirn-Verletzung der Druck im Schädelinneren so doll ansteigt, dass das Herz-Kreislauf-System es nicht mehr schafft, Blut ins Schädelinnere zu pumpen und somit in einem Durchblutungsstillstand resultiert.
DocCheck: Und Ihre aktuellen Forschungsergebnisse dazu? Was haben Sie jetzt konkret herausgefunden?
Salih: Vielleicht das Wichtigste für alle, die entsprechende Patienten auch behandeln und solche Ableitungen machen, ist, dass der sogenannte zerebrale Perfusionsdruck nicht erst bei Null sein muss, damit der Durchblutungsstillstand resultiert. Wir sehen einen Durchblutungsstillstand schon bei zerebralen Perfusionsdruckwerten, die so zwischen 15 und 20 liegen können. Also sehr viel früher, als man über viele Jahre angenommen hat.
DocCheck: Die Feststellung oder Diagnose der irreversiblen Hirnfunktionsausfälle, dieser sogenannte Hirntod, ist ja zum Beispiel auch in der Organ- und Gewebespende wichtig. Welche Rolle spielen da jetzt die aktuellen Ergebnisse in dieser Hinsicht?
Salih: Es beeinflusst jetzt das Verfahren der Organspende oder die Allokation von Organen, die für eine Spende möglich sind, nicht. Es ist möglicherweise ein Ergebnis, was wir publiziert haben, was all jene, die auf einer Intensivstation Patienten mit schwersten Gehirnschäden betreuen und diese Ableitungsmethoden nutzen, früher in die Lage versetzt, Risikopatienten, die einen Hirntod entwickeln können, zu identifizieren und dann auch die Therapieparadigmen dahingehend anzupassen.
DocCheck: Die Feststellung dieses irreversiblen Hirnfunktionsausfalls erfolgt ja nach einem bestimmten Schema. Können Sie das noch mal kurz zusammenfassen, wie da genau vorgegangen wird?
Salih: Ja, wir haben in Deutschland seit Jahrzehnten ein Richtlinienwerk, was jetzt im letzten Sommer in seiner fünften Fortschreibung aktualisiert wurde und dem wissenschaftlichen Fortschritt auch Rechnung trägt. An den Grundprinzipien, wie man die Hirntodfeststellung macht, hat sich allerdings nichts geändert. Das Ganze basiert auf einem dreistufigen Verfahren. Zusammengefasst bedeutet die erste Stufe, dass man Voraussetzungen prüft. Die erste entscheidende Frage bei den Voraussetzungen: Liegt überhaupt eine Hirnschädigung vor? Also eine Diagnose, die es plausibel macht, dass das Gehirn irreversibel in seiner Gesamtheit und seiner Funktion ausgefallen sein könnte.
Wir schauen uns in der Regel erst mal an: Wie sehen die CT-Bilder und andere radiologische Befunde aus? Was ist die Diagnose? Das sind häufig Gehirnblutungen, Schädel-Hirn-Traumata oder auch hypoxische Hirnschäden bei Patienten, die einen Herz-Kreislauf-Stillstand hatten, zunächst erfolgreich wiederbelebt wurden, aber die Latenz zwischen Herz-Kreislauf-Stillstand und Wiedereintritt eines offiziellen Kreislaufs eben zu lang war. Das können aber auch entzündliche Erkrankungen sein, wie Gehirntumoren oder alles, was das Gehirn primär und sekundär schädigt.
Wenn dieses Plausibilitätskriterium erfüllt ist, also eine entsprechende Diagnose vorliegt, müssen reversible Ursachen einer schweren Gehirnschädigung und eines schweren Komas ausgeschlossen werden. Also alle Formen der Gehirnschädigung, die potenziell reversibel sind. Dazu gehören zum Beispiel eine starke Hypothermie, ein akuter Schock oder schwere Stoffwechselstörungen. Oder, in der Intensivmedizin sehr geläufig: Medikamente oder Narkosemittel, die die Hirnfunktion reduzieren. Und erst dann kommen wir zur Stufe zwei, wo wir die eigentlichen Untersuchungen machen.
Prinzipiell ist das bei uns in Deutschland so geregelt, dass es zwei Untersucher oder Untersucherinnen sein müssen. Es müssen beides Fachärzte, Fachärztinnen sein, die aus einem Fach kommen, in denen intensivmedizinisch Patienten mit schwersten Gehirnschäden behandelt werden. Beide müssen auch eine mehrjährige Erfahrung aufweisen. Wichtig ist, dass ein Interessenskonflikt mit der Organspende ausgeschlossen sein muss. Also die beiden Untersuchenden dürfen nicht mit der späteren Organentnahme involviert sein bzw. in einer Abteilung arbeiten oder unter der Weisung stehen von einem Vorgesetzten, der für Organtransplantation zuständig ist. Es gibt da noch so ein paar spezifische Änderungen bei Kindern. Bis zum 14. Lebensjahr muss immer ein Facharzt für Pädiatrie dabei sein bzw. ein Kinderchirurg. Und beide Untersucher sollen unabhängig voneinander die Befunderhebungen machen bzw. die Befundeinordnung. Das ist zunächst eine klinische Diagnose. Wir stellen fest, dass die Patienten ein reaktionsloses, tiefes Koma haben. Wir prüfen sogenannte Hirnstammreflexe. Bei keinem dieser Hirnstammreflexe darf eine positive Reflexantwort vorhanden sein. Damit ist die Hirnstammfunktion aber nicht abschließend untersucht. Nach den Hirnstammreflexen wird der klinische Teil der Diagnostik komplettiert durch den sogenannten Apnoe-Test. Damit sind wir am Ende der zweiten Stufe der klinischen Untersuchung.
Gefordert ist aber, um die Diagnose irreversibler Hirnfunktionsausfall zu stellen, dass wir auch die Irreversibilität nachweisen. Und da gibt es unterschiedliche Wege, diese nachzuweisen. Die richten sich ein bisschen nach der Art der Hirnschädigung. Haben wir eine primäre oder sekundäre Hirnschädigung? Und bei den Primären: Wo ist die Hirnschädigung zunächst aufgetreten? Supratentoriell, also im Großhirn, oder infratentoriell, also im Bereich des Hirnstammes und des Kleinhirns. Je nachdem, welche Art der Hirnschädigung aufgetreten ist, verbieten sich zum Beispiel einige der apparativen Zusatzuntersuchungen, die wir zur Verfügung haben, um die Irreversibilität nachzuweisen.
Man muss nicht zwingend apparative Zusatzdiagnostik machen, um die Irreversibilität nachzuweisen. Bei den sekundären Hirnschädigungen und den primär supratentoriellen Hirnschädigungen kann man die Diagnose Hirntod auch stellen, indem man die Irreversibilität durch eine Wartezeit dokumentiert, nach der man nochmal den klinischen Teil – also Stufe zwei der Untersuchung – wiederholt, wie ich ihn hier zusammengefasst hatte. Das ist bei den primär supratentoriellen Hirnschädigungen eine Wartezeit von mindestens zwölf Stunden und bei den sekundären Hirnschädigungen mindestens 72 Stunden.
Jetzt ist es im klinischen Alltag häufig so, dass man versucht, diese Wartezeit zu verkürzen und auf anderem Wege die Irreversibilität nachzuweisen. Dafür nutzt man dann apparative Zusatzuntersuchungen. Da gibt es grob eingeteilt einerseits elektrophysiologische Untersuchungen und radiologische Untersuchungen. Bei den elektrophysiologischen Untersuchungen ist das am häufigsten das EEG. Als Befundkriterium gilt, dass über mindestens 30 Minuten keinerlei Hirneigenaktivität auftreten darf während des EEGs, um die Irreversibilität nachzuweisen. Bei den radiologischen Verfahren sprechen wir von Verfahren, mit denen man die zerebrale Perfusion untersuchen kann. Das geht zum Beispiel mit Ultraschalltechniken. Das geht seit der vorletzten Fortschreibung der Richtlinie auch mit der CT-Angiografie, oder auch mit einem nuklearmedizinischen Verfahren der Perfusionsszintigrafie.
Vor dem dritten Lebensjahr ist der Nachweis der Irreversibilität noch etwas aufwendiger geregelt. Bei Neugeborenen bis zum 28. Lebenstag, also den ersten vier Wochen, müssen Sie immer den klinischen Teil und die Zusatzuntersuchungen im ersten Durchgang durchführen und zusätzlich eine Wartezeit einhalten, nach der Sie beide Teile – klinische Untersuchung plus Zusatzdiagnostik – wiederholen. Das sind 72 Stunden in den ersten vier Wochen, die Sie da einhalten müssen. Bei Kindern vom 29. Lebenstag bis zum zweiten Geburtstag sind das 24 Stunden.
DocCheck: Inwiefern wirken sich Ihre Forschungsergebnisse dann auf das konkrete Vorgehen auf der Intensivstation bei einem irreversiblen Hirnfunktionsausfall aus?
Salih: Der Hauptbefund unserer Ergebnisse, den wir jetzt in der jüngsten Studie noch einmal erhärten konnten, ist eine Untersuchung gewesen, bei der wir geschaut haben, ab welchem zerebralen Perfusionsdruck im Ultraschall der hirnversorgenden Gefäße ein Signal auftritt, was mit dem Perfusionsstillstand kompatibel ist. Also wir haben quasi ein Verfahren genutzt, was man bettseitig anwenden kann, den Ultraschall. Dafür müssen die Patienten nicht in eine andere Einrichtung.
Wir haben bei Patienten, bei denen aufgrund einer schweren Gehirnschädigung der intrakranielle Druck immer weiter angestiegen ist, geschaut: Ab welchem zerebralen Perfusionsdruck tritt ein Perfusionsstillstand auf? Wir konnten sehen, dass das im Mittel bei einem Wert um die 10 mmHg bereits der Fall ist, bei einzelnen Patienten schon bei 20 mmHg. Für uns im klinischen Alltag bedeutet das, wenn der intrakranielle Druck immer weiter steigt und der zerebrale Perfusionsdruck damit korrelierend sinkt, machen wir regelmäßig Ultraschalluntersuchungen, um den Moment abzupassen, wo die zerebrale Perfusion sistiert. Insofern haben die Studienergebnisse die Implikationen für uns, dass wir sehr viel früher die Diagnose irreversibler Hirnfunktionsausfall stellen, als das vielleicht noch vor fünf oder zehn Jahren der Fall war. Das hat Implikationen auch für den Umgang mit Angehörigen. Und was wir in der Untersuchung natürlich begleitend mitdokumentiert haben, sind die klinischen Symptome des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls.
Also das ist jetzt nicht nur eine Studie, die ultraschallbasiert geschaut hat, wann sistiert der zerebrale Perfusionsdruck, sondern gleichbedeutend und parallel haben wir auch immer die Hirnstammreflexe und die Untersuchungen auf spontane Atmung untersucht und konnten zeigen, dass diese eben auch viel früher auftreten, als erst zu dem Zeitpunkt, wo der zerebrale Perfusionsdruck bei Null ist. Vielleicht haben wir bei dem einen oder anderen dann auch den Ultraschall angewandt, bei dem wir das vorher nicht getan hätten, weil das halt Bestandteil unserer Studie war. Aber das häufigste Untersuchungsmedium für den Irreversibilitätsnachweis ist bei uns nach wie vor das EEG.
DocCheck: Was erhoffen Sie sich von weiterer Forschung? Was wäre für Sie ein wichtiger Punkt, wo man ansetzen müsste, wo sich vielleicht auch Vorgehen mit neuen Techniken, die in der Medizin möglich werden, ändern können?
Salih: Das Hauptmotiv für mich persönlich, diese Untersuchung, diese Studien voranzutreiben, um die Pathophysiologie des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls besser zu charakterisieren, ist auch, einen Beitrag für das Vertrauen in die Diagnose zu leisten. Es gibt ja in weiten Teilen der nicht-medizinischen Öffentlichkeit, vielleicht auch der medizinischen Öffentlichkeit, immer noch eine gewisse Verunsicherung. Ist mein Gehirn wirklich irreversibel tot? Wie sicher sind die Richtlinien? Wie sicher ist die Diagnostik?
Und ein Hauptmotiv für mich und meine Kollegen, mit denen ich die Untersuchung mache, ist, einen Beitrag zu leisten, zu dokumentieren, dass im Zustand des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls wirklich keine Aussicht mehr auf Wiedererlangung irgendeiner Gehirnfunktion ist. Wenn man die Pathophysiologie versteht und wenn man sich unsere Forschungsergebnisse anschaut, dann wird es plausibel, dass zum Zeitpunkt der Diagnosefeststellung wirklich keinerlei Hoffnung oder Unsicherheit mehr besteht.
Bildquelle: DocCheck und Marek Piwnicki, unsplash