Die „aktuelle“ Leitlinie für das Management arterieller Hypertonie stammt aus dem Jahr 2013. Bei einer so bedeutsamen Volkskrankheit und rasanten Wissensvermehrung auf dem Gebiet ist sie mehr als veraltet. Welche Bedeutung hat die SPRINT-Studie in der Praxis wirklich?
Die gute Nachricht vorweg: Die Blutdruckwerte in Deutschland sinken kontinuierlich. Dies belegt eine Analyse von sieben epidemiologischen Studien mit insgesamt rund 67.000 Teilnehmern. Bei Erwachsenen im Alter von 25 bis 79 Jahren waren die mittleren systolischen und diastolischen Blutdruckwerte um 4,2 mmHg niedriger als noch vor 15 Jahren. Im bundesweiten Vergleich war die Abnahme der systolischen Blutdruckwerte bei älteren Männern und Frauen (55–74 Jahre) mit mehr als 10 mmHg am deutlichsten. Hannelore Neuhauser vom Robert-Koch-Institut ist eine der Autoren der Studie und davon überzeugt, dass dafür die Behandlungsqualität bei Hypertonie der Grund ist. „In einigen Regionen ist eine Verdreifachung der Behandlungsrate zu verzeichnen. Diese bewegt sich nunmehr mit 72 Prozent auf einem guten internationalen Niveau.“
Entgegen der Empfehlungen des American College of Physicians (ACP) und der American Academy of Family Physicians (AAFP) sieht die Deutsche Hochdruckliga auch bei älteren Patienten einen besonderen Nutzen bei einer Blutdrucksenkung. Die ACP und AAFP empfehlen, bei über 60-jährigen Patienten erst ab einem systolischen Blutdruck von ≥ 150 mmHg medikamentös zu behandeln. Als Zielblutdruck soll < 150 mmHg angepeilt werden. Lediglich bei einem Apoplex, einer TIA oder einem hohen kardiovaskulären Risiko soll bereits ab 140 mmHg gesenkt werden. Ganz anders sieht dies die Deutsche Hochdruckliga und will auch bei betagten Patienten den Druck unter 140 mmHg senken. Dieses Blutdruckziel ist auch bei Hochdruckpatienten mit niedrigem oder unbekanntem kardiovaskulärem Risiko zu erwägen. „Bei Betrachtung der Studien zeigen sich in der Meta-Analyse von Weiss et al. ein signifikant besseres Gesamtüberleben, signifikant weniger Schlaganfälle und signifikant weniger kardiale Ereignisse, wenn der obere, der systolische, Blutdruckwert auf unter 140 mmHg gesenkt wird“, so ein Sprecher der DGH.
Prof. Martin Hausberg, Deutsche Hochdruckliga „Die SPRINT-Studie wird keinen Einfluss auf die deutschen und auch nicht auf die europäischen Leitlinien haben“, sagte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Hochdruckliga (DHL), Professor Martin Hausberg vom Städtischen Klinikum Karlsruhe. Es bleibe beim bisherigen Zielblutdruck von unter 140/90 mmHg für die große Mehrheit der Hypertonie-Patienten. Allenfalls bei hohem kardiovaskulärem Risiko könne ein systolischer Druck von unter 130 mmHg erwogen werden. „Das ist aber nur eine schwache Empfehlung.“ Die SPRINT-Studie hat belegt, dass Patienten von einer Absenkung des systolischen Zielblutdrucks auf 120 mmHg im Vergleich zum Leitlinienziel 140 mmHg im Hinblick auf kardiovaskuläre Ereignisse aller Art erheblich profitieren. Es gibt jedoch auch erheblich Kritik an der Studie. Die Ausschlusskriterien waren extrem umfangreich, die Szenarien nicht praxisrelevant und die Methoden, mit denen der Blutdruck gemessen wurde, nicht geeignet. Auch doccheck hat schon über die Kritikpunkte der SPRINT-Studie berichtet.
Eine Studie von Wohlfahrt et al. untersuchte an 2145 Personen die Unterschiede einer konservativen Blutdruckmessung durch den Arzt oder einer Fachkraft oder einer automatisierten Messung, wie sie bei SPRINT durchgeführt wurde. Bei der konventionellen Messung ergaben sich Werte von 140/90 mmHg, bei der automatisierten Methode 131/85 mmHg. Allein dies zieht die Ergebnisse der Studie in Zweifel. Auch eine Studie von Drawz et al. belegt, dass der „weiße Kittel“ den Druck erheblich ansteigen lässt.
Zu wenig Bewegung – Übergewicht – Kochsalz: So einfach ist die Formel zur Erklärung einer Hypertonie leider nicht. Die arterielle Hypertonie ist also nicht allein Folge eines ungesunden Lebensstils mit Übergewicht, Bewegungsmangel und anderen modifizierbaren Risikofaktoren. Es gibt eine starke erbliche Komponente, die vermutlich (noch) stärker ist als gedacht. Auf der Suche nach den verantwortlichen Genen haben Prof. Mark Caulfield und sein Team von der Queen Mary University, London, knapp 10 Millionen Genvarianten in den 420.000 Blutproben der UK Biobank untersucht und mit dem Blutdruck der Probanden verglichen. Das Ergebnis bestätigt, dass genetische Einflüsse erheblich zur Pathogenese beitragen. Es konnten 107 Genregionen identifiziert werden, die den Blutdruck beeinflussen.
Bahnbrechend sind die Erkenntnisse zu der Frage, auf wie vielen Ebenen Genmutationen in die Regelung des Blutdruckes eingreifen. Diese Ergebnisse liefern ein Bündel an innovativen Ansätzen für neue Therapien. Das Enzym NADPH Oxidase 4 (NOX4) schützt die Gefäße vor oxidativem Stress, es ist vermutlich an der Entstehung der salzsensitiven Hypertonie beteiligt. Ein Defekt des hier angreifenden Gens steigert das Hypertonierisiko. Das Gen ADAMTS7 enthält den Bauplan das Enzym Thrombospondin-1. Es ist an der Reparatur des Gefäßendothels beteiligt. Das Gen SLC14A2 agiert als Harnsäuretransporter, wirkt an Calciumkanälen und ist an der Regelung der Gefäßweite der Kapillargefäße verantwortlich. Caulfield regt die Entwicklung eines Gentests an, der bereits in der Jugend eine Prognose erlaubt, ob der Betroffene im Alter eine Hypertonie entwickeln wird.
Dass eine Kombination aus zwei, drei oder gar vier Wirkstoffen den Blutdruck stärker senkt als eine Monotherapie ist hinlänglich bekannt. Prof. Clara Chow von der Universität Sydney und ihr Team haben diesen Ansatz erheblich modifiziert. Keine Stufentherapie mehr, sondern eine Quadruppelkombi von Anfang an und das in geringst möglicher Einzeldosis. In der Studie wurde eine Quadtablette mit dem AT1-Blocker Irbesartan 37,5 mg, dem Calciumantagonisten Amlodipin 1,25 mg, dem Diuretikum Hydrochlorothiazid 6,25 mg und dem Betablocker Atenolol 12,5 mg getestet. Die Dosierungen entsprachen lediglich 25 Prozent der sonst üblichen Mengen. Die Therapie senkte den systolischen 24-Stundenblutdruck um 19 mmHg. Der in der Arztpraxis gemessene Druck sank um 22/13 mmHg. Alle 18 Patienten erreichten unter der Therapie einen Blutdruck von weniger als 140/90 mmHg. Unter der konventionellen Therapie gelang dies nur sechs der 18 Patienten. Die Verträglichkeit der Therapie war extrem gut. Die Ergebnisse sind vielversprechend, aber das Patientenkollektiv war sehr klein. An der Studie waren mehr Autoren als Patienten beteiligt.
Aus der SPRINT-Studie lassen sich keine Empfehlungen für bestimmte Antihypertensiva-Klassen ableiten. In den internationalen Leitlinien herrscht kein Konsens darüber, ob Beta-Blocker die Antihypertensiva der ersten Wahl sind. In den USA und Großbritannien wurden sie abgewertet, in Deutschland sind alle Blutdrucksenker gleichwertig erste Wahl. Unbestritten ist, dass Beta-Blocker bei Herzinsuffizienz und gewissen Herzrhythmusstörungen die Mortalität senken. Als first-line-Monotherapie sind sie jedoch nicht unumstritten. Eine Autorengruppe der Cochrane-Collaboration um Professor Dr. Charles Shey Wiysonge hat 13 randomisierte, kontrollierte Studien ausgewertet, in denen die Patienten unterschiedliche Antihypertensiva erhielten. Bei älteren Teilnehmern ab 65 Jahren führte Atenolol verglichen mit Diuretika zu einem Anstieg der Häufigkeit von koronarer Herzkrankheit um 63 Prozent. Betablocker führen als First-Line-Antihypertensiva zu einer moderaten Senkung kardiovaskulärer Folgeerkrankungen, senken aber die Gesamtsterblichkeit wenig bis gar nicht. Alle anderen Antihypertensiva zeigten sich hier überlegen. Die Autorengruppe kritisiert die schlechte Qualität der verfügbaren Daten und fordert differenzierte Analysen, insbesondere in der Unterscheidung nach Patientenalter und nach Substanzen. Es ist unklar, ob die Ergebnisse von Atenolol auf Metoprolol oder Betablocker mit erweiterter Wirkung wie Nebivolol übertragbar sind.
Prof. Philip Wenzel, Universitätsmedizin Mainz Forscher vom Zentrum für Kardiologie und dem Centrum für Thrombose und Hämostase (CTH) an der Universität Mainz belegen, dass bei Patienten mit Hypertonie der Blutgerinnungsfaktor XI verstärkt aktiviert ist. Wird der Faktor im Tierversuch mit einem Antisense-Oligonucleotid gehemmt, geht die Entzündungsaktivität zurück und der Blutdruck sinkt. Im Humanversuch zeigte sich, dass diese Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind. „Man weiß schon länger, dass Bluthochdruck mit einer Entzündung der Gefäßwände und infolgedessen einer Gefäßschädigung einhergeht. Vollkommen überraschend war für uns aber, dass ein Gerinnungsmechanismus auch an der Entstehung und Entwicklung von Bluthochdruck maßgeblich beteiligt sein kann“, erklärt Prof. Dr. Philip Wenzel in einer Pressemitteilung. Jetzt muss „nur noch“ ein entsprechender, verträglicher Faktor XI-Inhibitor gefunden werden und eine neue Säule in der Hypertonietherapie entstehen.