Hat die Gesetzeslage für oder gegen Sexarbeit einen Einfluss auf die sexuelle Gesundheit? Eine europäische Studie gibt jetzt eine klare Antwort. Länder, in denen Sexarbeit in Teilen oder ganz erlaubt ist, haben eine geringere HIV-Prävalenz in dieser Berufsgruppe.
Weibliche und männliche Sexarbeiter haben von Natur aus ein höheres Risiko als die Allgemeinbevölkerung, sich mit sexuell übertragbaren Infektionen (STI) anzustecken. Zum Bereich der Sexarbeit zählen Tätigkeiten in der Sexindustrie, insbesondere als Prostituierte, aber auch als Domina, Pornodarsteller oder Stripdancer. Vor allem von HIV sind Sexarbeiter dabei überproportional stärker betroffen. Viele Studien haben in der Vergangenheit stets nur das individuelle HIV-Infektionsrisiko der Sexarbeiter untersucht. Risiken, die aus der Gesetzgebung eines Staates oder den gesellschaftlichen Strukturen resultieren, wurden indes bisher viel zu wenig beachtet. Aaron Reeves und Kollegen werteten in ihrer aktuellen Studie Daten aus 27 europäischen Staaten aus. Dabei versuchten sie Zusammenhänge herzustellen zwischen der HIV-Prävalenz bei Sexarbeitern in dem jeweiligen Land und seiner Gesetzgebung pro oder kontra Sexarbeit. Die Ergebnisse sind durchaus überraschend und zudem eindeutig.
In Ländern, in denen die Sexarbeit teilweise legalisiert ist (n = 10), lag die HIV-Prävalenz bei den Sexarbeitern deutlich niedriger (p = 0,003) als in solchen mit einem Verbot der Sexarbeit (n = 17). Offensichtlich gibt es einen Zusammenhang zwischen der Gesetzgebung in einem Land und der HIV-Prävalenz bei Sexarbeitern. „Kommen eine liberale Gesetzgebung mit teilweise legalisierter Sexarbeit und ein effektiver, fairer Rechtsstaat zusammen, sinkt die HIV-Prävalenz bei Sexarbeitern spürbar“, so die Schlussfolgerung der Studienautoren. In Deutschland erlaubt die derzeitige Gesetzeslage beispielsweise die Prostitution sowohl für die Sexarbeiter als Anbieter als auch für die Freier als Käufer der Dienstleistungen. Ebenso sind Bordellbetriebe legalisiert. Eine solche Freizügigkeit gibt es jedoch in keinem anderen der untersuchten europäischen Staaten. In anderen Ländern, wie z. B. Großbritannien, Belgien, Armenien, Frankreich oder Portugal, ist die Sexarbeit weitestgehend legalisiert mit der Ausnahme von Bordellen. Demgegenüber stehen die Länder in Europa, welche jede Form der Sexarbeit als illegal betrachten und in der Konsequenz sogar kriminalisieren, so z. B. Rumänien, Litauen, Ukraine oder Montenegro. Eine Besonderheit ist das „nordische Modell“ aus Skandinavien, welches in Norwegen, Schweden und Island gilt. In diesen Staaten ist Sexarbeit als Angebot legalisiert, die Inanspruchnahme als Käufer jedoch illegal.
Das Verbot von Sexarbeit führt bekanntlich nicht dazu, dass sie nicht weiter praktiziert würde. Sexarbeiter werden durch restriktive Gesetze vielmehr kriminalisiert und in die Illegalität getrieben. Dadurch haben sie keinen Anteil mehr an den sozialen und gesundheitlichen Sicherungssystemen, was ihr Risiko für Infektionen mit STI und insbesondere HIV stark erhöht. Noch viel wichtiger ist in diesem Zusammenhang aber, dass den Frauen und zum Teil auch Männern in der Sexarbeit die Möglichkeit genommen wird, Rechtsschutz durch den Staat zu genießen. Sexarbeiter müssen in Ländern mit restriktiver Gesetzeslage Repressalien durch Kunden und ebenso häufig durch Staatsbedienstete oder auch Willkür und Polizeigewalt fürchten. Ihre Verhandlungsposition ist von vornherein geschwächt, sodass selbst grundlegende Dinge, wie beispielsweise die Kondomnutzung für die Betroffenen nicht verhandelbar sind. Niederschwellige Präventionsangebote und Routinetests auf HIV und andere STI, wenn überhaupt etabliert, sind für die Sexarbeiter aufgrund der Kriminalisierung ihres Gewerbes gänzlich unerreichbar. Da verwundert es nicht, dass gerade in europäischen Staaten, welche Sexarbeit per se als illegal betrachten, die Prävalenzen für STI und HIV in der Gruppe der Sexarbeiter weiter ansteigen. Nichtsdestotrotz bleibt die genaue Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen der Gesetzgebung und der HIV-Prävalenz bei Sexarbeitern noch unklar. „Einfach die Gesetze zu ändern und Prostitution zu legalisieren führt ja nicht zwangsläufig zu weniger Stigmatisierung der Betroffenen und schließlich zu einem Rückgang der HIV-Prävalenz“, so die Autoren. Doch die Korrelation bleibt eindeutig und erfordert zumindest, sie in Zukunft auch weiter zu erforschen. Quelle: Is sex work policy a determinant of HIV prevalence among sex workers? Ecological regression analysis of 27 European countries. A. Reeves et al.; The Lancet HIV; doi: 10.1016/S2352-3018(16)30217-X; 2017