Erkennbar ist eine Autismus-Spektrum-Störung derzeit frühestens ab zwei Jahren. Das könnte sich dank einer MRT-gestützten Diagnose bald ändern, zumindest für „Hochrisiko-Kinder“ aus Familien mit einem autistischen Geschwisterkind. Doch ist eine so frühe Diagnose sinnvoll?
Bei Kindern mit familiärer Vorbelastung lässt sich mit Hilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) bereits im ersten Lebensjahr feststellen, ob sich später eine Autismus-Spektrum-Störung entwickeln wird. Das berichten Wissenschaftler aktuell in Nature. 1 Der große Vorteil aus Sicht der Wissenschaftler: „Eine frühe Diagnose der Erkrankung würde auch frühe präventive Maßnahmen ermöglichen, wenn das Gehirn noch am formbarsten ist.“ Eine frühe Detektion eröffnet außerdem die Möglichkeit einer frühen Therapie, die mit einer besonders hohen, langfristigen Erfolgsquote verknüpft ist.
Doch ursächlich behandelbar sind Autismus-Spektrum-Störungen bis heute nicht. „Frühe therapeutische Maßnahmen könnten den Betroffenen jedoch helfen, ihre sozialen Interaktionen und Kommunikationsfähigkeiten zu verbessern und damit auch psychische Begleiterkrankungen in Schach zu halten“, argumentieren die Studienautoren. Diese therapeutischen Maßnahmen müssten jedoch erst noch entwickelt werden.
An der Studie nahmen 106 Kinder mit mindestens einem autistischen Geschwisterkind und 42 Kinder ohne autistische Geschwister teil. Von beiden Gruppen nahmen die Wissenschaftler MRT-Bilder des Gehirns der schlafenden Kinder mit jeweils 6, 12 und 24 Monaten auf. Gemessen wurden das Gehirnvolumen, die Oberfläche des Gehirns und die Dicke bestimmter Bereiche im zerebralen Cortex. Die Forscher beobachteten, dass Babys, die später eine Autismus-Spektrum-Störung entwickelten, im Alter zwischen 6 und 12 Monaten eine viel schnellere Vergrößerung der Hirnoberfläche zeigten als Babys, die bis zum 24. Lebensmonat keine Anzeichen von Autismus aufzeigten. Dabei vergrößerte sich vor allem die Oberfläche des Hinterhaupts Gyrus, des rechten Cuneus (einem Teil des Occipitallappens) und des rechten lingualen Gyrus Bereichs. Die Wachstumsrate des Gehirnvolumens unterschied sich in diesem Alter jedoch nicht bei den beiden Gruppen. Im 2. Lebensjahr nahm das Hirnvolumen der später erkrankten Kinder aber stärker zu als bei gesunden Kindern. Zahlreiche Studien haben bereits von Anomalien des Hirnvolumens im Zumsammenhang mit verschiedenen mentalen Erkrankungen berichtet. Eine Übersichtsarbeit2 aus dem Jahr 2006 legt jedoch nahe, dass es sich bei der in der wissenschaftlichen Literatur übermäßig häufig berichtetem Phänomen des vergrößerten Hirnvolumens bei mentalen Erkrankungen auch um einen wissenschaftlichen Bias handeln könnte.
Die Beobachtungen der aktuellen Forschungsarbeit waren mit bloßem Auge nicht ersichtlich, sondern kamen erst durch eine Computeranalyse nach Anwendung eines Deep Learning Algorithmus (eine Variante des maschinellen Lernens) zu Tage. Dieser Algorithmus nutzt hauptsächlich die Daten der Hinroberfläche von Kindern zwischen 6 und 12 Monaten, um vorherzusagen, ob bei dem betreffenden Kind mit 24 Monaten eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert wird. Stephen Dager von der University of Washington hofft auf bessere Chancen für betroffene Kinder durch eine frühe Diagnose. Credit: Marie-Anne Domsalla
Frühere Forschungsarbeiten hatten ein vergrößertes Gehirn bereits als einen Risikofaktor für Autismus identifiziert. Die aktuelle Studie ermöglicht es, diesen frühen, pathologischen Wachstumsprozess des kindlichen Gehirns bereits zu detektieren, bevor sich die Größe des Gehirns messbar verändert hat. Das übermäßige Wachstum des Gehirns korrelierte zudem mit der Schwere der sozialen Defizite, die im Alter von 2 Jahren diagnostiziert wurden. Bei familiär vorbelasteten Kindern mit einem autistischen Geschwisterkind waren die Gehirnunterschiede im Alter von 6 und 12 Monaten ausreichend, um bei 30 von 37 Kindern eine korrekte Autismus-Diagnose mit 24 Monaten vorherzusagen (Sensitivität 88 Prozent, positiver Vorhersagewert 81 Prozent). Dieses gute Vorhersage-Ergebnis gilt allerdings nur für Kinder mit einer familiären Vorbelastung. Bei 4 von 127 Kindern wurde die Verdachtsdiagnose, die nach 12 Monaten gestellt wurde, allerdings mit 24 Monaten nicht bestätigt (negativer Vorhersagewert 97 Prozent).
„Typische Verhaltensauffälligkeiten, die auf eine Autismus-Spektrum-Störung hinweisen, machen sich gewöhnlich erst ab einem Alter von etwa 2 Jahren bemerkbar“, so Annette Estes, Leiterin des Autismuszentrums der University of Washington. Zu diesem Zeitpunkt hat sich das Gehirn aber bereits substantiell verändert. „Mit unserer Methode lässt sich Autismus bei Hochrisiko-Kindern bereits vor dem 1. Geburtstag diagnostizieren“, so Robert Schultz, Leiter des Zentrums für Autismus Forschung im Children`s Hospital in Philadelphia, USA. Bei Kindern mit einem autistischen Geschwisterkind liegt das Risiko, auch an einer Autismus-Spektrum-Störung zu erkranken bei 20 Prozent. Annette Estes spielt mit einem Kind im Autismuszentrum der University of Washington. Credit: Kathryn Sauber In der übrigen Bevölkerung hat eines von 68 Kindern im Schulalter die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“ erhalten. Betroffen sind rund 10 Millionen Menschen weltweit.
Bevor der hier erprobte Algorithmus allerdings eine klinische Anwendung findet, muss seine Vorhersagekraft zunächst in weiteren Studien überprüft werden. „Wenn wir unsere Ergebnisse reproduzieren können, werden wir lange vor der Ausprägung von Verhaltensauffälligkeiten vorhersagen können, welche familiär vorbelasteten Kinder später an einer Autismus-Spektrum-Störung erkranken werden“, so Schultz. Robert T. Schultz, Leiter des Autismuszentrums am Children's Hospital von Philadelphia, USA © Children's Hospital of Philadelphia
Die Studie könnte laut Schultz auch wertvolle Informationen für künftige Behandlungsstrategien liefern. „Dank der Aufnahmen der Gehirne konnten wir bestimmte Regionen festmachen, deren untypische Entwicklung offenbar an der Entstehung von Autismus beteiligt ist“, erklärt der Neuropsychologe Schultz. Wenn wir die neuralen Mechanismen dahinter verstehen, können wir daraus eventuell frühere Behandlungsoptionen ableiten – möglicherweise noch bevor die Symptome der Autismus-Spektrum-Störung auftreten.“
Ab 3 Jahren könnte die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung noch einfacher sein: Erst im Herbst letzten Jahres hatten Wissenschaftler von einer frühen Diagnose mit Hilfe eines Tablets berichtet.3 Anhand der Analyse von zwei altersgerechten Spiele-Apps war den Forschern eine rasche und treffsichere Verdachtsdiagnose bei Kindern im Alter von 3 bis 6 Jahren gelungen. Eine eigens für die Studie entwickelte Software im Hintergrund untersuchte dabei die Feinmotorik der Kinder. Sie vergleich die Handhabung der Spiele von 37 autistischen und 45 gesunden Kindern und lag in 93 Prozent der Diagnosen richtig. Die autistischen Kinder zeichneten sich durch häufigere, festere Bewegungen aus, sie bedienten das Tablet mit stärkerem Druck und unter ausladenderen und schnelleren Bewegungen als die gesunden Kinder.
Der große Vorteil dieser Methode: Gegenüber MRT-Aufnahmen sind die Handy-Apps wesentlich günstiger und zudem weniger invasiv für die Kinder. Denn um aussagefähige Bilder zu bekommen, müssen Babys vor einer MRT-Diagnose sediert werden. Diese Maßnahme allein dürfte viele Eltern mit Hochrisikokindern davon abhalten, eine frühe Diagnose anzustreben, für die es - im Moment zumindest - noch keine therapeutischen Konsequenzen gibt.
Die Wissenschaftler der Nature-Studie sind sich dieser Problematik zwar bewusst, sehen ihre Studie aber als Grundstein für die Entwicklung früher Therapien für betroffene Kinder. Sie befürchten, dass eine Diagnose in diesem Alter bereits zu spät sein könnte. „Mit 3 Jahren liegen die betroffenen Kinder in Bezug auf ihre sozialen und sprachlichen Fähigkeiten oft schon weit hinter denen ihrer gesunden Altersgenossen zurück“, so Estes und weiter: „Verpasst man diese wichtigen Entwicklungsschritte, ist ein Aufholen ein immerwährender Kampf für alle Beteiligten und nahezu unmöglich für viele Kinder.“ Die MRT-Aufnahmen der Kinder waren nur mit Hilfe eines Algorithmus auswertbar. Credit: University of Washington Kollege Stephen Dager ergänzt: „Wir hoffen, dass eine frühe Intervention – vor dem 2. Geburtstag – die klinische Entwicklung der Kinder wieder auf die richtige Bahn bringen kann.“
Early brain development in infants at high risk for autism spectrum disorder H.C. Hazlett et al.; Nature, doi: 10.1038/nature21369; 2017 Excess significance bias in the literature on brain volume abnormalities J.P. Ioannidis; Arch Gen Psychiatry, doi: 10.1001/archgenpsychiatry.2011.28; 2011 Toward the Autism Motor Signature: Gesture patterns during smart tablet gameplay identify children with autism A. Anzulewicz et al.; Sci Rep, doi: 10.1038/srep31107; 2016