Genfood, Globalisierung, Gesundheitskarte - der moderne Mensch sorgt sich um alles. Mitunter schlägt die Sorge um ins Pathologische. Für Psychiater sind Angsterkrankungen die Hysterie des 21. Jahrhunderts. In der Schweiz will eine 20-Jahre-Studie jetzt die Ursachen von Angst und Depression erforschen - ein Framingham-Projekt der Psyche.
Die Experten sind sich einig: Die Prävalenz psychischer Erkrankungen nimmt rapide zu. Vor allem Angsterkrankungen und die Depression nehmen zumindest in einigen Teilen der Gesellschaft epidemische Ausmaße an. "Jeder fünfte bis siebte Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens eine Angsterkrankung", betont Professor Jürgen Margraf vom Lehrstuhl für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Basel im DocCheck-Interview. Die Weltgesundheitsorganisation WHO rechnet damit, dass die unipolare Depression bis zum Jahr 2020 die wichtigste einzelne Ursache krankheitsbedingter Belastungen sein wird.
Hohe Kosten, viele Vorurteile
"Die Sozialsysteme spüren schon heute die steigenden Krankheitskosten, die durch psychische Erkrankungen ausgelöst werden", sagt Margraf, der auch Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie der Bundesärztekammer ist. An einem Beispiel hat er das detailliert durchgerechnet: "Patienten mit Panikstörungen verursachen den Krankenkassen in den zwei Jahren bevor sie zu uns zur Behandlung kommen im Durchschnitt etwa 5000 Euro Kosten." Ein Drittel davon sind Kosten für den Arbeitsausfall, ein weiteres Drittel sind stationäre Behandlungen. Das Gute ist: Diese Kosten lassen sich absenken. "Durch eine kurze Therapie konnten wir sie um 80 Prozent reduzieren", so Margraf. Dass gegen Angsterkrankungen und Depression kein Kraut gewachsen sei, ist eines der Vorurteile, mit denen die Psychiatrie zu kämpfen hat. Dass die Betroffenen an ihren Problemen selbst schuld seien, ist ein weiteres.
Auch die durch zahlreiche Medienberichte verstärkte These von der Gefährlichkeit psychisch kranker Menschen gehört in diese Kategorie. Noch einmal Margraf: "In Wirklichkeit sind Menschen mit psychischen Störungen nicht viel gefährlicher als andere Menschen. Die Gefahr richtet sich im Wesentlichen gegen sich selbst." Bei praktisch allen psychischen Erkrankungen ist das Suizidrisiko stark erhöht. Ungefähr jeder siebte depressive Mensch stirbt von eigener Hand. In den Industrienationen ist die Anzahl der Suizidopfer deutlich höher als die der Toten im Straßenverkehr. Der Unterschied: In die Verkehrssicherheit werden viele Milliarden Euro investiert. Psychologen dagegen kämpfen um jede Hotline.
Hier finden Sie das Telefoninterview unseres Autors mit Professor Margraf zum Download...
"Diese Welt macht mich krank" - Stimmt.
Wenn nun aber Angsterkrankungen und Depressionen wirklich so rasant zugenommen haben - die Rede ist von einer Standardabweichung in den letzten Jahrzehnten - dann stellt sich die Frage, warum das so ist. Ist das moderne Leben wirklich so psychisch virulent, dass es den Anstieg erklären könnte? Margraf sagt ja. "Wenn wir so starke Veränderungen beobachten, wie wir das bei den Angststörungen sehen, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass das auf biologischen Prozessen oder Veränderungen des Genpools beruht. Es müssen sich Veränderungen im psychosozialen Bereich ergeben haben." Für relativ offenkundig hält er Zusammenhänge mit ökonomischen Prozessen: "Wir haben definitiv weniger Sicherheit im Leben heutzutage, zumindest subjektiv wahrgenommen."
Auch zwischenmenschliche Beziehungen spielen eine Rolle. Beziehungen sind einer der wichtigsten Schutzfaktoren für unsere Gesundheit, die wir überhaupt kennen. Doch gerade hier werden die Verhältnisse immer instabiler: Immer mehr Ehen werden geschieden. Immer mehr Kinder wachsen mit nur einer Bezugsperson auf. "Man kann zeigen, dass dieser Verlust von sozialer Verbundenheit rund zwanzig Prozent der Varianz aufklärt, die wir beim Anstieg der Ängste beobachten", so Margraf. Ein weiterer Punkt, der mit herein spielen dürfte, ist der zu beobachtende Verlust an wahrgenommener Vorhersagbarkeit und Kontrolle. Stress macht dann krank, wenn als unkontrollierbar empfunden wird. "Immer mehr Menschen haben heute dieses Gefühl, und sie entwickeln dann Ängste vor solchen Dingen wie Globalisierung oder Genfood, über die sie - egal ob es stimmt oder nicht - meinen, keine Kontrolle zu haben."
Sesam öffne dich!
Längst sind nicht alle Faktoren bekannt, die Angsterkrankungen und Depressionen begünstigen oder vor ihnen schützen. Um hier genauere Erkenntnisse zu bekommen, hat Margraf zusammen mit zahlreichen Kollegen aus diversen Fachrichtungen das auf zwanzig Jahre angelegte SESAM-Projekt ins Leben gerufen. Dessen wichtigster Bestandteil startet gerade, nämlich eine prospektive Längsschnittstudie mit 3000 Schweizer Familien über drei Generationen. Es handelt sich um eine Art Framingham-Projekt für die Psyche. Ähnlich wie das Vorbild, das sich primär um kardiovaskuläre Erkrankungen gekümmert hat, soll SESAM das Zusammenspiel zwischen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren ausleuchten, um gefährdende, aber auch schützende Faktoren für psychische Erkrankungen zu identifizieren.
Das Spektrum ist breit: Geklärt werden sollen die Auswirkungen von Stress während der Schwangerschaft auf die Geburt und auf die spätere Entwicklung, die Auswirkungen von stabilen Beziehungen auf die Bewältigung von Krisen und Herausforderungen, die Folgen bestimmter schulischer Erfahrungen und vieles mehr. Bleibt zu hoffen, dass SESAM bei der Generierung wissenschaftlicher Erkenntnisse ähnlich produktiv wird wie es Framingham noch heute ist. Der Bedarf ist da: "Psychische Erkrankungen sind nicht selten. Sie können jeden treffen. Das Schöne dabei ist: Häufig sind sie vergleichsweise gut behandelbar", so Margraf.