Er ist druckfrisch und dürfte für Aufsehen sorgen: Der "Arzneimittel-Atlas 2006" nimmt die Entwicklung des Arzneimittelverbrauchs in der GKV unter die Lupe. Fazit des 256-Seiten starken Papiers: Die meisten Ärzte verschreiben im Interesse der Patienten. Doch ein Stopp der Mehrausgaben bei Arzneimittel scheint nicht in Sicht - und das ist gut so.
Seit nunmehr 20 Jahren erscheint der Arzneimittel-Report, für Mediziner und Apotheker zählt das Buch zur Pflichtlektüre. Denn während im Lande eine erbitterte Kontroverse um den richtigen Kurs in Sachen Arzneimittelpolitik läuft, demonstriert schon die Zusammensetzung des projektbegleitenden Beirats des Papiers, dass es auch anders geht: er besteht aus Mitgliedern der Pharma- und Apothekenbranche, ebenso wie aus Vertretern der gesetzlichen Krankenkassen oder des Gemeinsamen Bundesausschusses und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Für den Leser ist das eine wichtige Finesse, zeugt der Beirat von dem gelungenen Versuch, die Fakten unabhängig von der jeweiligen Interessensausrichtung zu präsentieren.
Was dem Buch auch gelingt. Schon der Blick in die Grundzüge der Analyse offenbart, dass der Arzneimittelsektor tatsächlich von deutlichen Umsatzeinbußen erschüttert wird - doch entgegen der landläufigen Meinung bei weitem nicht in allen Bereichen. Während beispielsweise die Indikationsgruppen Antiphlogistika und Antirheumatika um 115,4 Millionen Euro oder 14,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr einbrachen, und auch lipidsenkende Mittel ein Minus von 141,4 Mio. oder 15,1 Prozent aufweisen, wartet die Gruppe der Immunsppressiva mit einem Plus von sagenhaften 146,2 Mio. bzw. 28 Prozent auf. Auch Analgetika (plus 189 Mio./ 16,3 Prozent) oder Mittel mit Wirkung auf das Renin-Angiotensin-System (plus 167,8 Mio./ 10,2 Prozent) zeugen von deutlichen Umsatzsteigerungen.
Drei Faktoren führen zum Anstieg
Der Blick ins Eingemachte zeigt, dass den Umsatzveränderungen in Höhe von 1,942 Milliarden Euro und damit verbunden deutlichen Mehrausgaben der GKV Einsparungen in Höhe von 472 Mio. gegenüberstanden. Doch der Anstieg der Kosten im Arzneimittelbereich mache deutlich, dass "die Umsatz- und damit Ausgabensteigerungen im Wesentlichen auf einen Mehrverbrauch von Arzneimitteln zurückzuführen sind", konstatiert die Studie und entkräftet damit die weit verbreitete Annahme, wonach der Preis der Arzneimittel allein die Gesamtkosten bestimmt. "Die in die detaillierte Analyse einbezogenen 22 Indikationsgruppen zeigen fast ausnahmslos Umsatzzuwächse auf Grund von Mehrverbrauch", heißt es weiter.
Warum Mediziner mehr Arzneimittel verschrieben, versuchten die Autoren ebenfalls herauszufinden. Danach führen gleich drei Faktoren zum beobachteten Anstieg: epidemiologische Veränderungen, die Kompensation der bestehenden Unterversorgung in einigen Bereichen und Nachholeffekte. Fazit der Autoren für das Jahr 2006: Die Mehrkosten legten nahe, "dass es sich um eine in hohem Maße rational erklärbare Entwicklung handelt".
Im Interesse der Patienten
Tatsächlich fanden die Forscher erstaunliches heraus. So sind Ausgaben in Höhe von 381,2 Mio. Euro epidemiologisch begründet, weitere 353,9 Mio. kostete die Kompensation der Unterversorgung. Nachholeffekte schließlich schlugen mit 316,6 Mio. zu Buche, während der Bereich "neue Behandlungsmöglichkeiten" 225,8 Mio. vereinnahmte.
Dass höhere Arzneimittelausgaben durchaus in Interesse der Patienten sein können, belegen die Autoren anhand der Disease-Management-Programme (DMP). So verzeichnete man ausgerechnet bei der Gruppe der Antidiabetika (A10) einen gestiegenen Verbrauch - wohl auch, weil die strukturierte Behandlung zu mehr Arztkontakten und damit verbunden zu einer besseren Compliance bei den Patienten führt. Steigende Kosten, erfährt der Leser nach der Lektüre, sind zumindest bei Arzneimitteln keine Frage der Verschwendung. Vielmehr erscheinen sie als Beleg für die adäquate Behandlung der Patienten. Dass der eingangs erwähnte interdisziplinäre Beirat, zu dem auch der Vorstandsvorsitzende des BKK Bundesverbandes gehört, diese Darstellung der Autoren mitträgt, spricht für die Tragweite der im Buch geschilderten Zusammenhänge.
Für Ärzte ist das Werk ebenso informativ gestaltet wie für Apotheker. Nicht nur liefern die Autoren eine sehr genaue und faktenreiche Beschreibung nach Indikationsgruppen - sie merken auch kritisch an, auf welche Präparate Ärzte aus therapeutischen Gründen angewiesen sind und auch in Zukunft bleiben werden. Neu eingeführte Wirkstoffe kommen in der Analyse nicht zu kurz, die Lektüre eignet sich daher durchaus zum Auffrischen des allgemeinen Wissenstands.