Ältere und kranke Personen erhalten jährlich die Empfehlung, sich gegen eine möglicherweise kommende Grippewelle impfen zu lassen. Und immer mehr Menschen kommen dieser Empfehlung auch nach. Sinn und Zweck dieser Empfehlung bezweifelten US-Epidemiologen allerdings und schürten das Feuer einer anhaltenden Kontroverse.
Jedes Jahr versuchen etwa 20 Mio. Deutsche, eine mögliche Grippewelle weitgehend unbeschadet zu überstehen: Sie lassen sich entsprechend der jährlichen Aufrufe impfen. Besonders empfehlen Experten Impfungen denjenigen, die alt und gebrechlich sind - auch wenn sie nicht wissen, ob eine Grippeepidemie überhaupt kommt und ob die Impfung dann vor dem tatsächlichen Virus schützen kann.
Nutzen oder Last?
Hintergrund aktueller Empfehlungen sind Studienergebnisse der Vergangenheit, wonach Impfungen die mit der Influenza verbundene Sterblichkeit erheblich senken können. Beeindruckende Zahlen von Influenza-assoziierten Senkungen der (Gesamt)sterblichkeit und der Krankenhausbehandlungen einschließlich der Sterblichkeit im Krankenhaus stellten Lone Simonsen vom National Institute of Allergy and Infectious Diseases in Bethesda, Maryland, und Kollegen in Frage. Sie halten die Wirksamkeit der Grippeschutzimpfung nach ihrer im Lancet Infectious Diseases veröffentlichten Studie für deutlich weniger wirksam als viele Forschungsarbeiten bisher glauben ließen. Bereits 2005 hatte die Forscherin die Grippesterblichkeit über 65-Jähriger analysiert. Demnach war diese von 1968 bis 1980 aufgrund der erworbenen Immunität nach einer Pandemie 1968 abgefallen, um anschließend wieder anzusteigen - und dies trotz deutlich zunehmender Impfabdeckungen von 15% auf 65%. Während vergangene Mortalitätsstudien 5% aller im Winter verzeichneten Todesfälle der Influenza zuschrieben, berichten viele Kohortenstudien über eine 50-prozentige Reduktion des Gesamttodesrisikos im Winter. Demnach übersteigt der Nutzen die geschätzte Last durch die Grippesterblichkeit zehnmal.
Studien fehlen oder sind fehlerhaft
Ursache der widersprüchlichen Ergebnisse sieht die Forscherin unter anderem darin, dass es zu wenig Arbeiten zur Wirksamkeit der Impfung bei Älteren und speziell bei über 75-Jährigen gibt. Doch gerade in dieser Gruppe ereignen sich Dreiviertel der Influenza-bedingten Todesfälle. Weiteres Problem früherer Kohortenstudien könnten Selektionsverzerrungen sein, so die Wissenschaftler. Ungeklärt ist, ob sich möglicherweise bevorzugt gesunde Ältere impfen lassen. Hinweise darauf ergab bereits eine Studie von Lisa Jackson im Jahr 2005 (International Journal of Epidemiology). Danach war das Sterberisiko von geimpften Älteren bereits vor der Impfung und der Influenzasaison deutlich geringer als das ungeimpfter Senioren - vielleicht weil diese zu krank sind, um sich impfen zu lassen. Für eine eingeschränkte Aussage früherer Kohortenstudien sind zudem unspezifische Endpunkte wie die Gesamtsterblichkeit im Winter verantwortlich, so die Forscher. Nicht zuletzt haben sie den Verdacht, dass die Grippe, deren Diagnose eine rein klinische ist, nicht nur von medizinischen Laien häufig mit einem grippalen Infekt verwechselt würde.
Wirksamkeit bleibt zunächst unklar
Bleibt die Frage, ob sich ältere und vorerkrankte Personen nun impfen lassen sollen oder nicht. Neue Studien zur Wirksamkeit der Impfung an verschiedenen Bevölkerungsgruppen könnten mehr Klarheit verschaffen, brauchen jedoch Zeit. Angesichts fehlender Alternativen ist es sicher nicht sinnvoll, derzeit gültige Empfehlungen aufzuheben. Dementsprechend sind Empfehlungen des Robert Koch-Institutes unverändert gültig.
Die Forscher der aktuellen Studie schlagen jedoch vor, Impfstrategien zu überdenken. Möglicherweise sollten mehr Personen aller Alterklassen geimpft werden, um Senioren indirekt zu schützen. Eine weitere Strategie könnte die Identifizierung und Impfung besonders gebrechlicher Älterer sein, die das größte Todesrisiko bei einer Grippeerkrankung tragen. Weitere Möglichkeit wäre eine Hemmung der Ausbreitung über den aggressiveren Einsatz von Virustatika in der Prävention und Therapie von Erkrankungen.