Während Patienten aus vielen Nationen telemedizinische Leistungen schätzen, setzt man in Deutschland immer noch auf Bevormundung. Gesetzgeber und Berufsverbände handeln nach dem Motto: zwei Schritte vor, einen zurück.
Mit dem E-Health-Gesetz gehen Leistungen wie die telekonsiliarische Befundbeurteilung von Röntgenaufnahmen und die Online-Videosprechstunde bald in die vertragsärztlichen Versorgung über. Doch der Teufel steckt im Detail, Stichwort Fernbehandlungsverbot: „Ärztinnen und Ärzte dürfen individuelle ärztliche Behandlung, insbesondere auch Beratung, nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien durchfuhren. Auch bei telemedizinischen Verfahren ist zu gewährleisten, dass eine Ärztin oder ein Arzt die Patientin oder den Patienten unmittelbar behandelt", heißt es in der (Muster-) Berufsordnung. Damit ist jetzt – zumindest im Rahmen eines Modellprojekts – Schluss.
© DrEd Den Stein brachte eine Anfrage zur berufsrechtlichen Bewertung der Tätigkeit eines Arztes ins Rollen. Er arbeitete von Baden-Württemberg aus für ein ausländisches Unternehmen, das Patienten per Telemedizin berät. Bestes Beispiel ist Medgate. Der Schweizer Konzern bietet seit Jahren telemedizinische Leistungen an. Patienten rufen im Callcenter an und sprechen zuerst mit medizinischen Fachangestellten. Medgate App. © Medgate Per App senden sie auch Fotos einer Hautläsion oder eines entzündeten Auges ein. Dann erfolgt eine erste „Triage“ anhand der Symptome und der Schwere einer Erkrankung. Kurze Zeit später rufen Ärzte zurück, um weitere Maßnahmen zu besprechen. Das können OTCs oder Rx-Präparate sein, aber auch Überweisungen zum Facharzt. Falls erforderlich, gibt es eine Krankschreibung für den Arbeitgeber. Alle Daten werden über das Portal zwischen Behandlern kommuniziert. DocCheck bietet mit DocCheck Help ebenfalls eine technische Lösung für den digitalen Kontakt an. Ärzte haben die Möglichkeit, Patientenanfragen per Chat oder Telefon zu beantworten. Doch zurück nach Baden-Württemberg: Nachdem auch Ärzte aus dem „Ländle“ bei Medgate mitarbeiten, machten Standesvertreter aus der Not eine Tugend. Sie öffnen die Berufsordnung im Sinne einer Modellklausel: „Modellprojekte, insbesondere zur Forschung, in denen ärztliche Behandlungen ausschließlich über Kommunikationsnetze durchgeführt werden, bedürfen der Genehmigung durch die Landesärztekammer und sind zu evaluieren.“ Wie ein Sprecher gegenüber DocCheck bestätigt, laufe derzeit eine Ausschreibung für die Software. Im nächsten Schritt suche man interessierte Kollegen für den Praxistest. Allen Beteiligten bereitet das vierte Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (AMG-Novelle) jedoch Kopfzerbrechen. Apotheken in Deutschland dürfen Rx-Präparate nur noch abgeben, falls sie erkennen, dass ein persönlicher Kontakt zwischen Arzt und Patient stattgefunden hat.
Diese Problematik kennt DrEd mit Sitz in London nur allzu gut. Anhand von Online-Fragebögen entscheiden Kollegen, ob sie Medikamente online verschreiben. Im Fokus stehen Erektionsstörungen, Haarausfall oder Infektionen des Urogenitaltrakts. Aber auch bei chronischen Erkrankungen wie Asthma oder Hypertonie erhalten Patienten ihre Medikation. Tabuerkrankungen bleiben nach dem OTC-Switch von Notfallkontrazeptiva ebenfalls ein Thema. DrEd hat Sprechstunden zu Chlamydien, Gonorrhö, Genitalherpes oder Genitalwarzen im Programm. „Wir bedauern sehr, dass in Deutschland das Fernbehandlungsverbot verschärft und ärztliche Versorgungsformen nicht dem technologischen Fortschritt angepasst werden“, so DrEd-Geschäftsführer David Meinertz. Als Reaktion auf die AMG-Novelle will er Verordnungen an EU-Apotheken jenseits der deutschen Grenzen übertragen. Von dort aus gelangen Arzneimittel zum Kunden, so lange es kein Rx-Versandverbot gibt.
© DrEd Eine Frage bleibt: Wieso entscheiden sich viele Menschen für telemedizinische Leistungen? Der weltweite Umsatz ist von 2009 (19,7 Milliarden US-Dollar) bis 2016 (27,3 Milliarden) kräftig gewachsen. Verschiedenen Befragungen zufolge sind die typischen Telemedizinpatienten Frauen zwischen 20 und 35 Jahren sowie Männer zwischen 35 und 50 Jahren. Nach den drei wichtigsten Gründen gefragt, nennen sie Zeitersparnis, zeitliche und räumliche Flexibilität und Diskretion. Basierend auf eigenen Befragungen gibt DrEd an, der durchschnittliche GKV-Patient warte 17 Tage auf einen Termin und verbringe 27 Minuten im Wartezimmer – falls es überhaupt eine Praxis gibt. So mancher Landarztsitz wurde längst geschlossen und Standesvertreter konstatieren, der medizinische Versorgungsbedarf steige schneller als die Zahl der Ärzte.
Außerdem setzen jungen Kollegen neue Prioritäten. „Es wächst eine sehr selbstbewusste Ärztegeneration nach. Sie ist verständlicherweise nicht mehr bereit, Versorgungslücken bedingungslos auf Kosten der eigenen Lebensplanung zu schließen“, sagt BÄK-Präsident Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery. Umfragen zufolge steht die Vereinbarkeit von Beruf und Familie an erster Stelle, gefolgt von geregelten, flexibel gestaltbaren Arbeitszeiten. Kliniken oder Praxen bieten dies kaum. Umso attraktiver sind telemedizinische Services auch für Ärzte. Sie schalten sich vom Home Office aus zu und arbeiten, je nach persönlicher Situation, vielleicht nur ein paar Stunden pro Tag.
Gegner bewerten die Situation weniger euphorisch. Sie haben nicht nur Sicherheitsbedenken, sondern zweifeln auch, ob die vermuteten Einsparungen tatsächlich der Realität entsprechen. Und Vertreter der Freien Ärzteschaft hinterfragen das Ressourcenthema kritisch. Sei ein Arzt in der Videosprechstunde, könne er nicht gleichzeitig Patienten behandeln, kritisiert der Verband. Vielmehr ignoriere der Gesetzgeber die Ursachen des Ärztemangels. Bleibt noch ein Blick auf Honorare: „Die neuen EBM-Ziffern für die Videosprechstunde werden mit lediglich 4,21 Euro für die Technik und 9,27 Euro für den Patientenkontakt vergütet – allerdings nur, wenn im gleichen Quartal kein Patientenkontakt stattgefunden hat und dieser Patient in den beiden Vorquartalen in der Praxis war“, so Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in Deutschland. Beide Ziffern seien zudem auf 800 Euro pro Jahr begrenzt. „Müsste der Patient trotz Videostunde in die Praxis einbestellt werden, können Ärzte die vorausgegangene Videosprechstunde gar nicht abrechnen – trotz erbrachter Leistung.“ Attraktiv ist das bisher nicht.