Pünktlich zum Jahrestag der größten medizinischen Katastrophe der letzten Jahrzehnte wird absehbar, dass das Medikament Thalidomid demnächst auch in Europa wieder zugelassen wird. Diesmal soll es Leben retten, nicht gefährden.
Die Contergan-Katastrophe hat sich tief in das kollektive Gedächtnisdes deutschen Gesundheitswesens gebrannt. Wie tief, das hat dasunwürdige Gezerre um die Fernsehproduktion "Contergan"belegt. In einer bizarren Allianz kämpften ein Opferanwalt und dasPharmaunternehmen Grünenthal Seite an Seite gegen die Ausstrahlung desweithin als gelungen empfundenen Spielfilmzweiteilers. Erst das höchstedeutsche Gericht sprach ein Machtwort. Zumindest das UnternehmenGrünenthal hat sich dadurch einen Bärendienst erwiesen. Doch auch fürdie Politik bleibt das Thema Contergan heikel, wie das hilflose Agierenvon Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt im Zusammenhang mitJahrestag und Spielfilm zeigt.
Bei multiplem Myelom wird Thalidomid zum Lebensretter
Medizinisch dagegen erlebt die Substanz Thalidomid gerade eineRenaissance, die unter anderem deswegen möglich wurde, weil dieSicherheitsstandards in der Pharmakotherapie auch als Folge derContergan-Katastrophe mittlerweile extrem hoch sind. Schon seit einigenJahren wird Thalidomid bei Lepraund in der Zweitlinientherapie bei Patienten mit multiplem Myelomeingesetzt. In den USA und in anderen Ländern hat die Substanz dafürauch die arzneimittelrechtliche Zulassung.
Nun wurde eine neue Studiepubliziert, bei der Thalidomid in der Erstlinientherapie bei Patientenmit multiplem Myelom zum Einsatz kam. Der Nutzen für die Betroffenenwar dabei dermaßen hoch, dass Experten jetzt davon ausgehen, dass sichauch die europäische Zulassungsbehörde EMEA der Zulassung nicht mehrwird widersetzen können. Im Einzelnen erhielten 447 bis datounbehandelte Myelom-Patienten über 65 Jahren eine Kombinationstherapieaus den Standardpräparaten Melphalan und Prednison. Dazu kam bei einemTeil der Patienten Thalidomid.
Der Unterschied zwischen den Gruppen war eklatant: Die Patienten, dieThalidomid erhalten hatten, lebten im Median 52 Monate und damitanderthalb Jahre länger als jene, die mit Melphalan plus Prednisontherapiert wurden. "Damit sollte das jetzt die neue Standardtherapiefür ältere Menschen mit multiplem Myelom werden", betont ProfessorThierry Facon von der Universität Lille in Frankreich, der dieinternationale Studie konzipiert und geleitet hat. Deutsche Hämatologenschließen sich dieser Auffassung an. Professor Hartmut Goldschmidt vonder Universität Heidelberg sieht Thalidomid als Standard fürsymptomatische Patienten, die für eine Hochdosischemotherapie mitStammzelltransplantation nicht in Frage kommen. Und auch die DeutscheGesellschaft für Hämatologie und Onkologie dürfte ihre zwei Jahre alten Empfehlungen zum Einsatz von Thalidomid demnächst aktualisieren.
Verhüten ist Pflicht
Seinen Weg in die Apothekenregale als freiverkäufliches Präparat wird das mittlerweile von dem britischen Unternehmen Pharmionvertriebene Thalidomid freilich nicht wieder nehmen. Die an derBehandlung von Myelom-Patienten beteiligten Ärzte und Apotheker müssenein strenges Sicherheitsprogrammeinhalten, wenn sie Thalidomid einsetzen wollen. Denn klar ist: Auch inseiner jetzt eingesetzten Form bleibt Thalidomid neurotoxisch. Frauen,die mit Thalidomid behandelt werden, müssen deswegen unter anderemsichere Verhütungsmittel einsetzen und regelmäßigeSchwangerschaftstests über sich ergehen lassen.
Unter anderem dieses Sicherheitsprogramm ist die Ursache dafür, dasseine Behandlung mit der eigentlich preisgünstigen Substanz Thalidomidrelativ teuer ist. Bisher gab es deswegen häufiger Probleme mitKrankenkassen, die die Therapie nicht erstatten wollten. Mit dererwarteten Zulassung dürfte sich das jetzt ändern. Und jene 500 bis1000 Patienten, die in Deutschland pro Jahr an einem symptomatischenMyelom erkranken, können auf ein längeres Leben hoffen.