Verkehrte Welt: Nach der erfolgreichen Reprogrammierung von Hautzellen zu embryonalen Stammzellen erklären Deutschlands Embryonenschützer plötzlich embryonale Stammzellforscher zu Bundesgenossen, um das deutsche Stammzellgesetz zu retten. Doch der Widerstand gegen die konservative Deutungshoheit über den Stammtischen formiert sich.
Es war der christlich dominierte Bundesverband Lebensrecht (BVL), der den Vogel abschoss. Am Tag nach Publikation der Forschungsarbeiten zur Reprogrammierung von Hautzellen zu Zellen, die embryonalen Stammzellen ähneln, ging der BVL mit einer Stellungnahme in die Offensive, deren Kernaussage seither von weiten Teile des konservativen Establishments wiedergekäut wird:
"Mit den in den Fachzeitschriften 'Science' und 'Cell' veröffentlichten sensationellen Ergebnissen von Shinya Yamanaka und James Thomsom steht der Regenerativen Medizin nun neben Nabelschnurblut und adulten Stammzellen eine dritte vielversprechende, ethisch akzeptable Quelle für weitere Forschungen zur Verfügung. Der BVL fordert die Abgeordneten des Deutschen Bundestags daher auf, die Bemühungen um eine Novelle des Stammzellgesetzes umgehend einzustellen."
Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen. Nicht nur wird hier demokratisch gewählten Abgeordneten verbal die Pistole auf die Brust gesetzt. Nicht nur werden komplizierte und mit vielen Fragezeichen zu versehende Forschungsergebnisse pauschal als sensationeller Durchbruch verkauft, weil es zur eigenen Argumentation passt. Es werden auch noch zwei namhafte embryonale Stammzellforscher in Geiselhaft genommen, um genau das, was diese Forscher seit Jahren machen, in Deutschland zu verbieten.
In bester Tradition der moralischen Selbstüberhöhung wird hier bedenkenlos auf die Ergebnisse von Forschungsarbeiten zurück gegriffen, die in Deutschland gar nicht erlaubt gewesen wären, nur um selbst eine weiße Weste zu behalten. Gleichzeitig findet man offensichtlich nichts daran, dass deutsche Forscher, die sich an diesen "sensationellen" Forschungsarbeiten hätten beteiligen wollen, dies gar nicht gekonnt hätten, weil in Deutschland dafür dank Stammzellgesetz strafrechtliche Konsequenzen drohen. Scheinheiliger geht es kaum.
Liberalisierung des Stammzellgesetzes gewinnt Anhänger
Nach einer mehrtägigen Schreckstarre melden sich mittlerweile aber auch die Befürworter einer Änderung des Stammzellgesetzes im kommenden Jahr wieder zu Wort, um sich die Deutungshoheit über die neuen Ergebnisse der Stammzellforschung nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Zum Glück für die Stammzellforschung kommen diese Stimmen auch aus der CDU/CSU. "Ich habe das Gefühl, dass jene, die das Stammzellgesetz nicht ändern oder sogar weiter einschränken wollen, ganz bewusst das Unwissen der Bevölkerung ausnutzen", sagt beispielsweise der Obmann für Bildung und Forschung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Michael Kretschmer. Kretschmer gehört zu einer fraktionsübergreifenden Gruppe von Abgeordneten, die sich für eine Änderung des Stammzellgesetzes im kommenden Jahr ausspricht.
Auch Bundesforschungsministerin Annette Schavan hat vorsichtige Zustimmung signalisiert. Sie hat aber das Problem, gleichzeitig Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken zu sein, einer der Hochburgen des Embryonenschutz-Fundamentalismus. Zur Erinnerung: Derzeit dürfen deutsche Forscher nur mit embryonalen Stammzelllinien arbeiten, die vor dem 1. Januar 2002 erzeugt wurden. Kretschmer selbst gab auf einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Regenerative Medizin in Berlin zu Protokoll, er selbst plädiere dafür, den Stichtag ganz abzuschaffen. Das aber ist im Deutschen Bundestag in keinem Fall mehrheitsfähig, sodass die Befürworter eines liberaleren Stammzellgesetzes derzeit eine Verschiebung des Stichtags auf Mitte 2007 oder Anfang 2008 anstreben sowie eine Klarstellung der Straffreiheit für deutsche Forscher, die sich im Ausland an der embryonalen Stammzellforschung beteiligen.
Neue Zellen statt "altem Schrott"
Wissenschaftlich ist dieser Schritt nach Auffassung führender deutscher Stammzellforscher überfällig: "Wir haben die Möglichkeiten, die uns der Gesetzgeber gegeben hat, gut ausgenutzt, aber wir kommen jetzt an Grenzen", sagte Professor Anthony Ho aus Heidelberg. So habe man in den letzten Jahren lernen müssen, dass auch embryonale Stammzellen alterten. Viele der alten Zelllinien seien mittlerweile "alter Schrott", der in Ländern, in denen das möglich ist, längst durch neuere, sauberere und bessere Zelllinien ersetzt werde. Neue Zelllinien sind beispielsweise nicht mehr durch Mauszellen kontaminiert und damit eher in klinischen Anwendungen am Menschen einsetzbar. Professor Frank Emmrich vom Universitätsklinikum Leipzig konnte das bestätigen: Von den ursprünglich über siebzig bei den National Institutes of Health gelisteten Zelllinien seien mittlerweile nur noch zwanzig übrig, Tendenz fallend.
Gleichzeitig gebe es über 500 neue Zelllinien, mit denen deutsche Wissenschaftler wegen der Stichtagsregelung nicht arbeiten könnten. Emmrich wusste auch von einer jungen Forscherin zu berichten, die wegen ihrer herausragenden Arbeiten auf dem Gebiet der Stammzellforschung das Angebot erhalten hatte, in einer der führenden Arbeitsgruppen auf diesem Gebiet in Kanada mit zu arbeiten. "Wir haben das lange diskutiert und das Angebot letztlich zurück gewiesen, weil es rechtlich unkalkulierbar ist", so Emmrich.
Anwendungen am Menschen "eine Sache von Jahrzehnten"
Es gibt also gleich doppelten Bedarf für eine Änderung des Stammzellgesetzes, beim Stichtag und bei der strafrechtlichen Einordnung. Das Argument, durch die neuen Forschungsergebnisse werde die weitere Forschung an embryonalen Stammzellen überflüssig, halten sowohl Ho als auch Emmrich für absurd. Ho dämpfte die Erwartungen deutlich: "Das sind sehr frühe Resultate. Die reprogrammierten Hautzellen könnten beispielsweise nie am Menschen eingesetzt werden, weil sie mit Viren transfiziert wurden.
Das kann auch anders gehen, aber das müssen wir erstmal erforschen, und für diese Forschung brauchen wir auch weiterhin embryonale Stammzellen. Bis zur klinischen Anwendung kann es noch Jahre oder Jahrzehnte dauern." Zumindest für Michael Kretschmer ziehen solche sachlich begründeten Argumente stärker als Ideologien: "Deutschland tut nicht gut daran, wenn Geisteswissenschaftler über technologische Fortschritte der Stammzellforschung urteilen, wie das im Moment der Fall ist."