Sie haben Unvorstellbares erlebt: Bomben, die neben ihnen einschlugen, Vergewaltigungen und ein brennendes Zuhause. Gibt es für Kriegsflüchtlinge bei uns Möglichkeiten, diese Bilder wieder loszuwerden? Allein ihre Zahl überfordert verfügbare psychotherapeutische Kapazitäten.
Knapp 750.000 Asylanträge stellten letztes Jahr Menschen, die vor Gewalt oder politischer Verfolgung in Deutschland Schutz suchten. Etwa 1,2 Mio. Menschen sind in den letzten beiden Jahren hier angekommen.
Psychotherapeuten schätzen, dass die Hälfte von ihnen unter psychischen Störungen leidet, mehr als 200.000 müssten dringend behandelt werden. Im Vergleich zur Bevölkerung des Gastlandes ist die Rate von Ankömmlingen mit posttraumatischem Belastungssyndrom (PTBS) etwa zehnmal so hoch. Sie alle haben ein stark erhöhtes Risiko für eine schizophrene Störung und Depression. Oft ist es die Bombe in unmittelbarer Nähe, die für das psychische Trauma sorgt, manchmal aber auch die getötete Ehefrau oder das Kind. Bei Frauen hinterlässt die Vergewaltigung durch Soldaten oder „Fluchthelfer“ unauslöschliche Spuren in der Psyche. Nach der Flucht mit Trennung, Hunger und Unsicherheit über das weitere Schicksal sind die psychischen Belastungen für die Ankommenden in der Asylunterkunft noch längst nicht gelöst. Denn auch hier stellt die unbekannte Kultur und die beengte Lebenssituation hohe Anforderungen. In ihrer Heimat sind die typischen Symptome einer Belastungsstörung manchmal ganz unbekannt, „Albträume, Flashbacks, unkontrolliertes Zittern und Panikattacken, das sind dort Zeichen“, so erklärt Mathias Wendeborn von der Flüchtlingshilfsorganisation Refudocs, „dass man von einem Schinn besessen ist“, also von einem Dämon. Nur ein winziger Prozentsatz dieser „Dämonisierten“ ist nach seiner Ankunft gewaltbereit und wird kriminell, „aber es ist illusorisch zu denken, dass Menschen ohne Probleme eine neue Sprache lernen und Arbeit finden können, wenn sie psychische Probleme haben“, sagt Thomas Elbert von der Universität Konstanz. „ Wenn wir schnelle Integration wollen, brauchen wir schnell einen Plan für ihr seelisches Wohlbefinden.“
Inzwischen liegen bereits etliche Ideen dafür in der Schublade oder finden sich in gedruckter Form in den psychiatrischen Fachzeitschriften. Nicht jeder, der unter den Strapazen von Krieg in der Heimat und jenen der Flucht leidet, braucht eine psychotherapeutische Behandlung. Vielfach lassen sich leichtere psychische Probleme durch ein Gespräch lösen oder lindern. Am besten mit jemandem, der aus dem gleichen Kulturkreis stammt, die gleiche Sprache spricht und schon Erfahrungen mit dem deutschen Sozialsystem hat. Frank Schneider von der RWTH Aachen schlägt zusammen mit seinen Kollegen Malek Bajbouj und Andreas Heinz von der Charité ein Stufenmodell („Stepped and collaborative care“) vor. Auf der untersten Stufe leichter psychischer Erkrankungen raten die Autoren zuerst einmal zu „abwartendem Beobachten“. Auf der nächsten Stufe kämen dann Angebote zum Tragen, bei denen nicht unbedingt ein Experte zum Einsatz kommen muss (Peer-to-Peer) oder bei denen sich auch internetbasierte Angebote bewährt haben. Erst wenn diese Möglichkeiten erschöpft sind, sollen Gruppensitzungen oder eine Einzeltherapie dem traumatisierten Menschen helfen. Für solche Laienhelfer als „Peers“ spricht sich auch Thomas Elbert aus. „Traumaberater“ sind mit der Kultur der Herkunftsländer vertraut oder stammen selber dorther. Gleichzeitig sind sie in Deutschland integriert und haben Erfahrungen im psychosozialen Bereich. Eine mehrwöchige stark praxisorientierte Fortbildung qualifiziert sie für die anspruchsvolle Aufgabe. Sie stehen unter der Supervision eines Psychotherapeuten, der auch die Indikation und Behandlungsplanung des Patienten übernimmt. Nach acht bis zwölf doppelstündigen Sitzungen schließt sich dann eine klinische Diagnostik als Überprüfung der Behandlung an. Der Erfolg eines solchen Systems, so schreibt Ebert in seinem Artikel für den „Nervenarzt“, sei wissenschaftlich evaluiert. Auch die Flüchtlingsorganisation Ipso entwickelt mit den „psychosozialen Counselors“ ein ähnliches Modell. Eine Ebene darunter sollen „Gesundheitslotsen“ den Erstkontakt mit den Zuwanderern aufnehmen und den Kontakt zu einem Arzt oder Therapeuten vermitteln. Maggie Schauer und Thomas Elbert © Universität Konstanz
Wie könnte nun eine solche Traumatherapie aussehen? Mit einem strukturierten Interview und einer Checkliste erkennt der Therapeut trauma-typische Symptome und kann Fragen nach Selbstmordgefahr oder möglicher Aggression abklären. Im Verlauf einer „Narrativen Expositionstherapie (NET)“ konstruieren Therapeut und Patient quasi von außen den Lebenslauf inklusive der traumatischen Ereignisse und halten ihn schriftlich fest. Wichtig ist es dann, die Auslöser für die Angst zu erkennen. Enge in öffentlichen Verkehrsmitteln oder unbeabsichtigte Berührungen können die Erinnerung an den Krieg oder an sexuelle Übergriffe aufwecken. Die Verknüpfung solcher Alltagssituationen in Deutschland und der Bedrohung muss demnach gelöst werden. Der Geflüchtete soll erkennen, dass diese Erlebnisse zur Vergangenheit gehören. In den meisten Fällen gelingt das. Auch von Laien angewandt, erwies sich NET als ein Erfolg versprechendes Verfahren für die Aufarbeitung traumatischer Ereignisse. Kunsttherapie hat sich in der Aufarbeitung ebenfalls bewährt. Gerade bei traumatisierten Kindern kann sie helfen, mit dem Erlebte klarzukommen und Unaussprechliches in Bildern auszudrücken, wie Rita Eckart von stART International auf einer Tagung in München berichtete.
Nicht immer ist es ganz leicht, auch medizinische Berufsorganisationen von neuen Konzepten mit nicht akademischem Fachpersonal für therapeutische Programme zu gewinnen. Mittel aus Töpfen des Bunds fließen demnach auch noch recht spärlich. Elberts Kollegin und Ehefrau Maggie Schauer konnte immerhin 100.000 Euro aus Geldern aus Baden-Württemberg für eine NET-Studie mit Flüchtlingen einwerben. Und Sarah Ayoughi von Ipso finanziert die Ausbildung von Zugewanderten mit Hilfe der Google-Stiftung. Die Abrechnung von psychotherapeutischen Leistungen mit den Sozialämter ist jedoch nach wie vor sehr aufwändig und kompliziert und für eine schnelle Reaktion auf den Bedarf des traumatisierten Kriegsopfers nicht immer passend. Auch in anderen Länder versuchen Psychotherapeuten mit ähnlichen Strategien, traumatisierten Migranten zu helfen. Emily Holmes vom Stockholmer Karolinska Institut wertet Tagebücher aus, in denen ihre Patienten ihre Flash-Backs eintragen. Im Durchschnitt sind das zwei pro Tag, wesentlich mehr als bei anderen PTBS-Patienten. Ebenfalls in Stockholm entwickelten Programmierer für Holmes’ Schützlinge ein Videospiel, das sie beim Auftreten unerwünschter Erinnerungen ablenken und diese damit aus den Gehirnen verdrängen soll. Im Laborversuch klappt das schon recht gut. Bewährt sich die App auch in der Praxis, so die Vorstellung der Entwickler, könnte man sie auch in Flüchtlingslagern in Afrika und Asien einsetzen.
Was geht im Gehirn von Trauma-Opfern vor? Welche Möglichkeiten gibt es, diese neurologischen Verknüpfungen zu blockieren oder die Verbindungen zu lösen? Das will Andreas Meyer-Lindenberg vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim untersuchen. Ein Smartphone dient dabei zur regelmäßigen Dokumentation des Gemütszustands, Panikattacken oder Misstrauen gegenüber anderen. Im anschließenden Gehirnscan hoffen die Forscher, spezifische Regionen ausfindig zu machen, die als Antwort auf sozialen Stress aufleuchten oder die vielleicht eine Resilienz gegen die wiederkehrenden Erinnerungen spiegeln. Zwei Studien aus Kanada und England konnten in den Gehirnen Geflüchteter unabhängig von äußeren Symptomen deutlich höhere Mengen an Dopamin im Striatum messen, möglicherweise ein Hinweis auf ein deutlich erhöhtes Psychoserisiko. Unter den Schutzsuchenden bekommt nur derjenige ärztliche Behandlung, der akut erkrankt ist und unter starken Schmerzen leidet. Eine Psychotherapie bei PTBS ist nach derzeitiger Auslegung nur unter besonderen Umständen gerechtfertigt und im Übrigen kein Grund, eine mögliche Abschiebung zu verzögern. Dementsprechend überrascht es auch nicht, dass rund 40 Prozent der Asylsuchenden mit behandlungsbedürftigem PTBS bereits Suizidpläne hatten oder haben. Wir sollten nicht darauf warten, dass solche Pläne verwirklicht werden.