Masernimpfung, Fernsehen, Internet: Es gibt kaum eine Innovation des 20. Jahrhunderts, die nicht zu Autismus führen soll. Eine neue Studie untermauert jetzt die These, dass die Zunahme des Autismus eine scheinbare ist. Und ein neuer Taschen-PC hilft denen, die wirklich darunter leiden.
Mit medizinischen Statistiken zur Häufigkeit von Erkrankungen ist es immer so eine Sache. Sie werden meist von Organisation erhoben und publiziert, die ein gewisses Interesse daran haben, "ihre" Erkrankungen im Gespräch zu halten - mit der Konsequenz, dass es kaum Erkrankungen zu geben scheint, deren Häufigkeit nicht entweder dramatisch zunimmt oder auf selbstverständlich hohem Level stabil ist.
Autismus-Epidemie und die Suche nach dem Schuldigen
Der kindliche Autismus gehört auch in diese Kategorie, was insofern bemerkenswert ist, als es sich um eine anerkanntermaßen stark genetisch determinierte Erkrankung handelt. Trotzdem sprechen Fachleute und Laien seit Jahren von einer Autismus-Epidemie, die in den letzten etwa zwanzig Jahren um sich gegriffen haben soll. In einer viel diskutierten Publikation in der Fachzeitschrift The Lancet haben Wissenschaftler des Special Needs and Autism Project (SNAP) aus Südengland diese Zunahme vor zwei Jahren auch quantifiziert: Demnach verachtfachte sich die Autismus-Quote zwischen den frühen neunziger Jahren und dem Jahr 2006 von fünf pro zehntausend auf vierzig pro zehntausend Kinder. Spätestens seit diesem Zeitpunkt gilt es vielen als angemessen, von einer Autismus-Epidemie zu sprechen. Der Zelotismus, mit dem das geschieht, variiert. Er ist im angelsächsischen Sprachraum ausgeprägter als in Mitteleuropa und in kulturkritischen Milieus prononcierter als anderswo. Dementsprechend gelten Masern- und/oder Mehrfachimpfstoffe, das Fernsehen, das Internet, Computerspiele sowie der allgemeine Leistungsdruck zu jenen Faktoren, denen gerne ein Zusammenhang mit der Zunahme des Autismus attestiert wird. Für all das gibt es auch epidemiologische Studien, die das angeblich beweisen oder nahe legen.
Zweifel an der Konstanz der Diagnosen
Es waren auch Epidemiologen, die schon im Jahr 2003 erste Zweifel an der These von der Autismus-Epidemie äußerten. So gibt es aus diesem Jahr eine elektronische Auswertung der in Großbritannien geführten "General Practice Research Database", einer Forschungsdatenbank mit pseudonymisierten Patientendaten von Hausärzten. (Warum gibt es so etwas eigentlich nicht in Deutschland?) In dieser Analyse zeigt sich in der Tat eine Zunahme der Autismusdiagnosen, die allerdings parallel lief mit einer Abnahme der Diagnosehäufigkeit bei den Sprachstörungen. Solche Zusammenhänge sind interessant, beweisen aber nichts. Ärzte um Professor Dorothy Bishop von der Universität Oxford haben sich jetzt in einer vom Wellcome Trust finanzierten Untersuchung etwas mehr Mühe gegeben und sich die individuellen Krankheitsgeschichten von 38 Erwachsenen angesehen, bei denen als Kinder zwischen 1986 und 2003 die Diagnose einer Sprachentwicklungsstörung gestellt worden war. Die Ergebnisse der Untersuchung sind der April-Ausgabe der Zeitschrift Developmental Medicine and Child Neurology nachzulesen. Es handelt sich ausnahmslos um Menschen, die damals an klinischen Studien teilgenommen hatten und über die entsprechend detaillierte Aufzeichnungen vorlagen. Diese Akten haben sich die Ärzte jetzt erneut angesehen, und außerdem die Betroffenen noch einmal selbst untersucht. Und siehe da: Mindestens jeder vierte der Patienten würde gemäß heutigen Diagnosekriterien als autistisch klassifiziert. "Unsere Studie ist ein ziemlich direkter Beweis dafür, dass sich ändernde Diagnosekriterien die Zunahme des Autismus zumindest mit verursacht haben", so Bishop. Viel weiter möchte sie sich im Moment allerdings noch nicht aus dem Fenster lehnen: "Wegen der kleinen Zahlen können wir nicht behaupten, dass es nicht auch eine genuine Zunahme des Autismus geben könnte", so die Wissenschaftlerin vorsichtig. Die Kulturpessimisten haben also bis auf weiteres noch ein wenig Spielraum.
Technik als Teil der Lösung?
Dass die Moderne mit ihren technischen Segnungen durchaus auch für autistische Kinder etwas bereithält, zeigen die guten Erfahrungen mit technischen "Gadgets" in dieser Patientengruppe. Die kanadische Kinderrehaklinik Bloorview hat jetzt erneut über exzellente Erfahrungen mit PDA- beziehungsweise Palmtop-Lösungen berichtet, die von autistischen Kindern genutzt werden, um zu kommunizieren. Die in Kanada entwickelte Lösung setzt auf eine Mischung aus Bilderauswahl und Worteingabe, wobei dem Kind nach Eingabe der ersten Buchstaben gängige Wörter vorgeschlagen werden, um es einfacher zu machen. Das Ganze wird dann an eine Sprachausgabe gekoppelt. "Die Kinder beginnen damit Gespräche, die sie ohne diese Unterstützung niemals angefangen hätten", hat Bloorviews Sprachtherapeutin Magaret Etorre beobachtet.