Über viele Jahre hinweg galt die Anwendung von Botox als sicher und nahezu frei von Nebenwirkungen. Denn bei richtiger Dosierung wirkt das Bakteriengift nur lokal. Die Ergebnisse italienischer Neurologen stellen diese Tatsache aber in Frage.
Auf der Shopping-Tour durch die Stadt mal kurz beim Botox-Laden vorbeischauen und sich ein paar Falten wegspritzen lassen. "Botox-to-go", "Faltenfrei in 20 Minuten" oder ähnlich klingen die Verlockungen von ästhetischen Chirurgen, die mit der meist weiblichen Laufkundschaft den lukrativen Verdienst wittern. Eine Untersuchung aus der dem beschaulichen italienischen Stadtchen Padua hat die Verkäufer der "Jugend aus der Tube" nun aufgeschreckt. Denn Matteo Caleo und seine Kollegen fanden das starke Nervengift nicht nur an der Injektionsstelle, sondern auch "dort, wo es nicht sein soll", so Caleo im Onlineauftritt des Wissenschaftsjournals "Science".
Potenter Synapsenblocker
Einige wenige Moleküle des Toxins von Clostridium botulinum genügen nach Ansicht von Neurologen, um eine Synapse für mehrere Tage stillzulegen. Die vermeintlich große Sicherheit in der Anwendung seit vielen Jahren scheint auf einmal doch auf wackeligen Beinen zu stehen. Denn nur einige Wochen vor Caleos Artikel im Journal of Neuroscience gab die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA eine Warnung heraus, in der sie vor systemischen Nebenwirkungen nach der lokalen Anwendung von Botulinumtoxin besonders bei Kindern warnt. Vorerst gründen sich die Ergebnisse der italienischen Forscher auf Experimente mit Mäusen und Ratten. Für Studien zur Wirkung des Clostridien-Toxins bei Epilepsie analysierten die Wissenschaftler nicht wie frühere Studien radioaktiv markiertes Toxin, sondern verfolgten die Spuren seiner Aktivität im Gehirn mit Antikörpern gegen den Reaktionspartner, SNAP-25. Das intakte Protein spielt eine wichtige Rolle bei Fusion von synaptischen Vesikeln. Injiziert in den Hippocampus, tauchte gespaltenes SNAP-25 zur Überraschung von Caleo in der entsprechenden Region der kontralateralen Gehirnhälfte auf und blockierte dort die Funktion des unbehandelten Hippocampus. Verabreichten die Forscher das Toxin in die Muskeln der Schnurrhaare, konnten sie SNAP-25 innerhalb von drei Tagen im Hirnstamm nachweisen. Entsprechend den Ergebnissen der italienischen Neurologen transportieren zentrale Neuronen das Toxin retrograd über die nächste Synapse hinweg ins Rückenmark oder das ZNS.
Auswirkungen auf die Klinik?
Ganz neu scheinen allerdings die Ergebnisse der Mannschaft aus Padua nicht zu sein. Im Gespräch mit DocCheck berichtet Reiner Benecke von der Universität Rostock und Vorsitzender des Arbeitskreises Botulinumtoxin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, dass er bereits vor etlichen Jahren zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sei. Bei den Studien an den Nagern sei außerdem mindestens die zehnfache Menge der Toxindosis verwendet worden, die Neurologen bei der Behandlung von Spasmen oder Dystonien einsetzen. Der Antikörpernachweis des Reaktionsprodukt sei zudem noch nicht zuverlässig validiert. Daher glaubt der Neurologe auch nicht, dass die Ergebnisse Auswirkungen auf die klinische Praxis haben werden. Ähnlich denken auch seine amerikanischen Kollegen wie beipsielsweise Joseph Jankovic, Professor für Neurologie am Baylor College of Medicine in Texas . "Nach tausenden von behandelten Patienten, habe er niemals Nebenwirkungen des Toxins im Gehirn oder Rückenmark gesehen",zitiert ihn das Fachmagazin "Neurology today".
Zertifikat für Toxin-Gebrauch
Dennoch nimmt der Arbeitskreis die Diskussion um die neuen Erkenntnisse und besonders die Bedenken der FDA ernst. Bei falscher Anwendung breitet sich das Toxin im Körper aus. Atemprobleme, die bis zum Tod führen können, gehören zu den Nebenwirkungen besonders bei Kindern und beim "off label"-Gebrauch im kosmetischen Bereich. Nach den Vorstellungen des Arbeitskreises Botulimumtoxin gehört deswegen die Therapie mit dem Bakteriengift in erfahrene Hände. Nur wer über die entsprechende Ausbildung und praktische Erfahrung verfügt, qualifiziert sich für ein entsprechendes Zertifikat.Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts haben Millionen Patienten von der heilenden Wirkung des tödlichen Gifts profitiert, speziell bei neurologischen Störungen. Die Ergebnisse der Arbeitsgruppe aus Padua haben dennoch hohe Wellen geschlagen und viele Botox-Gegner aktiviert. Wenn Nervenstränge das Toxin wirklich zu anderen Bereichen ihres Netzwerks transportieren, so ergeben sich dabei zwar neue Einsatzmöglichkeiten für den Wirkstoff, gleichzeitig verlieren die Therapeuten aber ein Stück Kontrolle über das Gift. Von vielen Ärzten wurde Botox und Co. ob seines vielfältigen Wirkungsbereichs bereits eine Karriere á la Aspirin vorausgesagt. Ähnlich der Acetylsalicylsäure ist aber seine Verarbeitung im Körper noch lange nicht völlig klar.