Der Arzneimittel-Report der GEK hat die Diskussionen um ADHS neu entfacht. Werden auffällige Kinder zu schnell medikamentös ruhig gestellt? Oder wird ihnen, im Gegenteil, nur dadurch ein halbwegs normales Leben ermöglicht? Auch Experten sind sich uneins.
Mit Preissteigerungsraten bei Arzneimitteln lassen sich immer gut Schlagzeilen machen. Um 8,1 Prozent stiegen die Arzneimittelausgaben im Jahr 2007 pro Versichertem an. Das ist zumindest die Hausnummer, die der Arzneimittel-Report der Gmündener Ersatzkasse (GEK) liefert, der als einigermaßen repräsentativ für die Trends im GKV-Markt gilt. Nur gut ein Viertel davon gehen auf Kosten der Mehrwertsteuererhöhung.
Psychostimulanzien werden zunehmend zu Blockbustern
Besondere Aufmerksamkeit widmen die Autoren des Reports in diesem Jahr Kindern und Jugendlichen. Vier von fünf Kindern bekommen wenigstens einmal im Jahr ein Arzneimittel verordnet. "Vergleichbare Werte erreichen wir erst wieder bei 60jährigen", betont Katrin Janhsen, eine der Studienautorinnen, in dem entsprechenden Kapitel des Reports. Was sie freilich nicht dazu sagt ist, dass sich das möglicherweise damit erklären lässt, dass bei Kindern sehr viel mehr Arzneimittel zu Lasten der GKV verordnet werden können als bei Erwachsenen. Besonderes hervorgehoben wird die wachsende Neigung zur Verordnung von Psychostimulanzien. Zwar ist mit Medikinet nur ein derartiges Präparate unter den "Top 20" der verordneten Präparate, die ansonsten von Erkältungspräparaten, Fiebersenkern und Fluorpräparaten dominiert werden. In der Altersgruppe der 11- bis 14jährigen allerdings sind alleine zwei Stimulanzien unter den Top 5, Medikinet auf Platz 1 und Concerta auf Position 4. Und schaut man sich nicht die Zahl der Verordnungen, sondern die Kosten an, dann sind plötzlich über die gesamte Kindheit schon drei der Top 10-Präparate und vier der Top 20-Präparate Stimulanzien, und diese verursachen zehn Prozent der Gesamtausgaben. Die GEK jedenfalls ist ob dieser Zahlen alarmiert: Für den 14. Oktober 2008 hat sie einen vertiefenden Bericht angekündigt, der ein ganz spezielles Auge auf die ADHS-Therapie wirft.
Neuer Vertrag soll Versorgung verbessern
Auch bei der Politik ist das Thema ADHS angekommen. "Rund 500000 Kinder und Jugendliche leiden in Deutschland an ADHS", sagte der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), Dr. Carl-Heinz Müller anlässlich der Vorstellung eines neuen Versorgungsvertrags für ADHS-Kinder, der jetzt den Krankenkassen angeboten wird. Rund die Hälfte dieser Kinder erhalte Ritalin oder verwandte Präparate, betonte die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium, Marion Caspers-Merk (SPD). Allein zwischen 1995 und 2000 hätten sich die Verschreibungen verzehnfacht. Der neue Versorgungsvertrag will dem insofern entgegen wirken, als er darauf abzielt, die Kinder zunächst verstärkt psychotherapeutisch zu behandeln. Die Hoffnung ist, dass sich dadurch Arzneiverordnungen und später auch Klinikeinweisungen verhindern lassen. So könnten sich die durch die Psychotherapie anfangs wohl eher höheren Behandlungskosten langfristig amortisieren.
Beim ADHS streiten sich "Neuros" und "Psychos" um die Deutungshoheit
Eines der Kernprobleme ist, dass es auch innerhalb der Ärzteschaft durchaus unterschiedliche Meinungen darüber gibt, was ADHS eigentlich ist. Es gibt Anhänger einer psychodynamisch angelegten Interpretation von ADHS, die vor allem soziale und gesellschaftliche Faktoren am Werk sehen. Diese Fraktion sieht einen raschen Einsatz von Psychostimulanzien eher kritisch. Auf der anderen Seite gibt es ein stark neurobiologisch orientiertes Krankheitsmodell, dessen Anhänger eher für einen frühen Einsatz der Stimulanzien plädieren. Die Neurophysiologie liefert hier zunehmend Daten, unter anderem zu elektrischen Hirnaktivitäten, die bei ADHS-Betroffenen über Jahre hinweg konstant auffällig bleiben. "Diese Kinder sind anders, und sie bleiben anders", sagt etwa Professor Hans-Christoph Steinhausen von der Universität Zürich. Für ein "sozial bedingtes" ADHS sprechen dagegen Daten des BELLA-Moduls des Deutschen Kinder- und Jugendgesundheitssurveys KiGGS, bei dem die Eltern von knapp zweieinhalbtausend Kindern befragt wurden. Diese Daten zeigen, dass die ADHS-Prävalenz klar mit dem sozioökonomischen Status korreliert: Bei sieben Prozent liegt sie in den unteren sozialen Schichten, bei nur drei Prozent in den oberen. Häufiger ist ADHS zudem in Städten mit über 500000 Einwohnern, wo eine Prävalenz von sieben Prozent erreicht wird, gegenüber vier bis fünf Prozent in kleineren Städten.