Wenn die Presse unreflektiert mitschreibt, was Forscher auf Konferenzen präsentieren und diskutieren, so hat das oft Folgen - von falscher Auslegung der Inhalte bis zur Missachtung einer Informationssperre. Die aber wohl interessanteste Konsequenz voreilig kommunizierter Medizin-News ist das veränderte Verschreibungsverhalten bei Ärzten.
"Das Wort 'Durchbruch' sollte eigentlich auf eine schwarze Liste für Wissenschaftsjournalisten gesetzt werden" fordert Holger Wormer, Professor für Wissenschaftsjournalistik in Dortmund und früherer Schreiber für die Süddeutsche Zeitung. Zu selten sind wahre Durchbrüche im Forschungslabor und bei klinischen Tests. Trotzdem finden sich auch auf den Seiten großer seriöser Blätter immer wieder Nachrichten von sensationellen neuen Befunden. Nicht selten lesen dabei die Journalisten von den Lippen von "Keynote-Speakern" auf großen Kongressen ab und so weiß der Patient oft noch vor der Fachpresse Bescheid. Dass die Redaktion dabei auch exklusiv mit Wortmeldungen aufmacht, die eigentlich nur für die Diskussion unter Forschern bestimmt sind, musste vor einigen Wochen Hans Schöler erfahren. Der Direktor des Max-Planck-Instituts für molekulare Biomedizin in Münster äußerte sich zu seiner Arbeit und der seiner Göttinger Kollegen zur Produktion pluripotenter Stammzellen bei einem Kongress in Dresden. Einige Tage später fand er seine privaten Bemerkungen unter Wissenschaftlern auf den Seiten der FAZ wieder. Über seine Forderung nach einer "Verschwiegenheitserklärung" für die Presse bei einigen Wissenschaftlertreffen wird seitdem heftig gestritten.
Präsentation mit Konsequenzen
Schöler präsentierte auf dem Treffen neue unpublizierte Ergebnisse. Solche Präsentationen sind aber nicht nur für den Zeitungsleser und möglichen Patienten interessant, sondern haben auch weitreichende Folgen bei der Behandlung in der Arztpraxis. Das zeigt ein Artikel aus dem Jahr 2006 von Sharon Giordano und ihren Kollegen vom MD Anderson Cancer Center in Texas im Journal of the National Cancer Institute. Ergebnisse einer klinischen Studie zur Wirkung von Paclitaxel bei Brustkrebs-Patientinnen mit befallenen Lymphknoten wurden erst im Jahr 2003 veröffentlicht, während die ersten Zwischenergebnisse bereits auch auf der ASCO-Tagung (American Society of Clinical Oncology) von 1998 bekannt wurden. Danach verlängerte der Wirkstoff die Überlebenszeit signifikant. Die viel - Umsatz - versprechenden Daten erfuhren dabei nicht nur 18 000 Konferenzbesucher, sondern auch die Leser der New York Times, des Wall Street Journals und anderer großer Zeitungen. Bis dahin war Paclitaxel lediglich für den Einsatz im Endstadium der Krankheit zugelassen und wurde erst ein Jahr später für den früheren Einsatz genehmigt. Sharon Giordano untersuchte, wie oft Onkologen den Wirkstoff nach den Schlagzeilen des Meetings einsetzten. Vor dem Kongress lag diese Zahl bei 5,2 Prozent, danach stieg sie auf 23,6 Prozent. Viele Ärzte gaben Paclitaxel nicht nur, wenn die Lymphknoten befallen waren, sondern auch im Frühstadium der Erkrankung. Für diese Anwendung gab es zu diesem Zeitpunkt keinerlei verlässliche Daten.
Studienergebnisse in der geheimen Schublade
Je nach weiterem Verlauf der Experimente oder Studien finden bei weitem nicht alle Präsentationen ihren Weg in ein angesehenes Journal. Nur etwa die Hälfte aller Abstracts sind innerhalb der nächsten dreieinhalb Jahre in großen Fachzeitschriften ausführlich nachzulesen. Ein Viertel aller oft ungeprüften Kongressbeiträge bleibt in den Schubladen der Forscher, wie Lisa Schwartz und ihre Kollegen 2002 herausfanden. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Untersuchung von Yune Kwong aus dem Jahr 2006. Wenn sich die Zwischenergebnisse wie bei Paclitaxel bestätigen, haben Patienten und Hersteller Glück gehabt, aber auch Ärzte, die eine neue Behandlungspraxis als 'off-label-use' anwenden - nicht selten auf ausdrücklichen Wunsch ihrer Klienten. Manchmal bestätigen sich die guten Zwischenergebnisse jedoch nicht. So wurde der Wirkstoff Gefitinib zwar 2003 von der amerikanischen FDA für die Anwendung beim Bronchialkarzinom zugelassen, durfte aber ab 2005 aufgrund mangelnder Behandlungserfolge nicht mehr bei Therapiebeginn verschrieben werden. Jeffrey Drazen, Herausgeber des New England Journal of Medicine, weist im Gespräch mit DocCheck darauf hin, dass "Ärzte sich bewusst sein sollten, dass Kongressabstracts nicht immer kritisch geprüft werden und manchmal voreilige Schlüsse enthalten".
Ängste bei Journalisten und Forschern
Journalisten haben es da nicht weniger schwer als Ärzte. Sie sind dazu angehalten, ihren Lesern Informationen über neue Therapiemöglichkeiten nicht erst nach vielen Jahren zukommen zu lassen. Konferenzreporter sollen die "heißen" Stories möglichst noch vor der Konkurrenz in ihrem Blatt haben. So kommt es zuweilen auch zu Geschichten wie dem Gen-Huhn "Britney". Angeblich konnte das Geflügel dank Gen-Manipulation pharmazeutische Wirkstoffe in seine Eiern verpacken. Die Geschichte ging im Jahr 2000 durch alle deutschen Medien, bevor sich Britney als Ente herausstellte. Solche Geschichten sind es, die oft zu Misstrauen zwischen Forscher und Journalist führen. Hans-Peter Peters vom Forschungszentrum Jülich publizierte vor kurzem in Science eine Untersuchung, nach der nur sechs von zehn Forschern mit Berichten über ihr Fachgebiet in Massenmedien zufrieden waren. In Deutschland bestehen nach Aussage von Wolfgang Kaysser vom GKSS Forschungszentrum in Geesthacht Ängste um den wissenschaftlichen Ruf, wenn der Mann von der Presse die Dinge zu einfach darstellt.
Science kürt immer im Dezember den 'Breakthrough of the Year', der "Informationsdienst Wissenschaft" (idw) verkündete rund 900 "Durchbrüche" in den letzten zehn Jahren. Vielleicht sollte man, so meint zumindest Wolfgang Becker-Brüser vom Arznei-Telegramm, den Durchbruch in der Medizin auf schwere Störungen im Gastrointestinalsystem beschränken.