Seit vier Jahren ringt die deutsche Politik um eine Reform des Medizinstudiums. Doch gehen die Vorschläge in die richtige Richtung? Doccheck fragte zwei Harvard-Professoren. Sie halten weder Schulnoten noch Vorlesungen für zeitgemäß.
Ein kleiner Seminarraum in der Kinderklinik in Leipzig: Statt strenger Stuhlreihen, die sonst in dem bunten Raum stehen, sitzen 18 Studierende an einem Sonntagabend im Kreis – zusammen mit zwei Harvard-Professoren. Obwohl die Pädiater Clifford Lo und John Graef für das Bedside-Teaching-Seminar extra von der renommierten US-Universität kommen, klingen ihre Worte so anders als die ihrer deutschen Kollegen: „Wir sind nicht klüger als ihr. Wir haben nur etwas mehr Erfahrung. Und die wollen wir in der kommenden Woche mit euch teilen“, erklärt John. Natürlich nennen wir uns alle sofort beim Vornamen.
In der kommenden Woche geht es nicht nur um Pädiatrie, sondern auch um die Formen der medizinischen Ausbildung. Hier haben die beiden US-Amerikaner einige deutliche Positionen: Bei der Frage, ob Vorlesungen denn in der zukünftigen Medizinerausbildung noch relevant sein werden, wird John leidenschaftlich: „Nein! Eine Vorlesung kann dir doch nicht beibringen, wie du mit einem Patienten umgehst.“ Ein weit aus besserer Weg seien Gruppen mit vier oder fünf Studierenden, die Unterricht am Patienten haben, ergänzt Clifford, „Wir haben [in den USA] Vorlesungen beinahe eliminiert.“ Auch die Auswahl der Medizinstudierenden in Deutschland betrachten die beiden Kinderärzte kritisch. Statt Studierende nach Schulnoten auszuwählen, befürworten sie intensive Interviews – wie sie an US-Universitäten üblich sind. „Wir wollen nicht nur die schlauesten sondern auch die motiviertesten Studierenden haben. Das macht den Unterschied!“, begründet Clifford den hohen Aufwand, den amerikanische Universitäten bei der Auswahl betreiben.
Zumindest in diesem Punkt scheint sich die deutsche Medizinerausbildung der amerikanischen anzupassen: Nach den zuletzt öffentlich gewordenen Ergebnissen der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die eine Reform des Medizinstudiums ausarbeitet, sollen neben Abiturnote noch mindestens zwei weitere Auswahlkriterien herangezogen werden. Wie genau Motivation oder soziale Kompetenzen in den Auswahlprozess einfließen werden, ist noch vollkommen unklar. Außerdem kommt wohl die Landarztquote, zumindest in abgeschwächter Form. Die Bundesländer sollen zukünftig selbst entscheiden, ob sie 10 % der Studienplätze an Bewerber vergeben, die sich für zehn Jahre nach Studienabschluss als Hausarzt verpflichten. Studierende, die dann gegen die Verpflichtungen handeln, müssten bis zu 150.000 Euro für ihr Studium bezahlen. Das könnte aber dazu führen, dass Abiturienten aus besonders reichen Elternhäusern nur zum Schein die Hausarztverpflichtung eingehen – um sich nach dem Studium frei zu kaufen.
Für Clifford und John ist ein Aspekt aber noch wichtiger als die sorgfältige Auswahl der Studierenden: Die Haltung der Lehrer zum Lehren. Schon am Abend im Stuhlkreis weisen sie daraufhin, dass das Wort „Doktor“ seinen Ursprung im lateinischen „docere“ – also lehren – hat. Ein Arzt ist für die beiden Harvard-Professoren zuerst ein Lehrer. Diese in der deutschen Medizinerausbildung seltenzu findende Haltung spüren die Teilnehmer über die ganze Seminarwoche hinweg. Clifford und John sind passionierte Lehrer, die ihr Wissen vor allem durch Fragen an die Studierenden vermitteln. „Die medizinische Ausbildung sollte Studierende zur Neugierde ermuntern“, erklärt Clifford, „Fragen machen neugierig. Und Neugierde macht einen guten Arzt aus.“
Zudem sollten Studierende schon früh dabei unterstützt werden, medizinische Entscheidungen zu fällen, meint John, die Kompetenzorientierung der medizinischen Ausbildung sei viel wichtiger als das reine Faktenwissen. Hier gibt es Bewegung im deutschen System: 2015 verabschiedete der medizinische Fakultätentag den Nationalen Kompetenz-basierten Lernzielkatalog Medizin (NKLM). Der NKLM ist ein Katalog an Kompetenzen, die Medizinstudierende nach Abschluss ihres Studiums beherrschen sollen. Schon die sechsjährige Erarbeitung bereitete einige Probleme. Nun knapp zwei Jahre nach dem Beschluss ist vom NKLM bisher wenig in der Praxis zu sehen. Wirkliche Veränderung hat der NKLM an vielen Fakultäten bisher nicht gebracht.
Am letzten Tag des Seminars stehen alle im Kreis draußen in der Sonne auf einer Wiese der Kinderklinik. In dieser Woche kamen Menschen mit ganz unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten zusammen. Daher kann jetzt jeder Teilnehmer sagen, was er anbieten kann und was er sucht. So bietet ein Student seine Kenntnisse in Statistik an, eine andere Studentin sucht Tipps für ihre Island-Reise. John bietet ein Baseballtraining in Boston und sucht jemanden, der ihm zeigt, wie man Apfelkuchen backt. Was hätten die Gesamtheit der deutschen Medizinstudierenden in dieser Runde zu bieten? Vielleicht Fleiß, Neugier oder Talent? Und viel spannender die Frage: Was suchen sie? Antwort darauf bietet eine Umfrage des Hartmannbundes 2015: Mehr Patientenkontakt, Praxisnähe und einen bundeseinheitlichen Lernzielkatalog. Oder laut einer Konferenz der bvmd: Eine faire PJ-Bezahlung und Fehltageregelung, mehr Wissenschaftlichkeit und innovative Lehrkonzepte. Mehr Freiraum im Studium, eine strukturierte Promotion, Ausbildung mit anderen Gesundheitsberufen. Es zeigt sich, dass die Studierenden viele gute Vorschläge für die Reform des Medizinstudiums einbringen. Nun sollten diese noch stärker als bisher von der Politik gehört werden. Denn eine neue Approbationsordnung trifft zuerst die neue Ärzte-Generation.